Ich wurde einmal von einem jungen Mann – es war kein Freund und es sollte auch keiner werden – gefragt, wie ich mich als Europäerin fühlen könne. Identität meinte er, brauche doch einen gewissen Grad mit Akzeptanz dessen, mit dem man sich identifizieren würde.
„Ich fühle mich als Europäerin, weil mir die Grenzen meines eigenen Landes für meine Neugier zu klein sind, weil der Wortschatz meiner eigenen Sprache nicht ausreicht, um meine Begeisterung über unsere Welt in Worte zu fassen und weil die blonden Hünen meiner Gegend nicht meinem Geschmack entsprechen“, erklärte ich ihm, denn so ist es.
„Aber all das erreichst du doch durch ein bisschen Gereise“, meinte er.
„Ich möchte nicht reisen, denn ich möchte nicht die ewige Touristin bleiben, die von ihrer eigenen Kultur auf andere mit schmunzelndem Interesse hinabsieht und das Bier fremder Brauereien lobt“, erwiderte ich, denn Menschen dieser Art sind mir genug begegnet. „Ich möchte mit meiner Kultur ein Teil einer neuen Kultur sein. Ich möchte dazu gehören. Ich möchte aufgenommen werden und aufnehmen. Ich möchte etwas gemeinsames Neues schaffen.“
Der junge Mann schüttelte den Kopf und strich seine gescheitelten Haare hinter die großen Ohren, um mich dann aus kleinen Augen zu fixieren.
Er kam zurück zu dem Punkt der Akzeptanz, was die Geschichte zurück zu dem Punkt führt, weshalb wir keine Freunde wurden.
„Das heißt du identifizierst dich mit Froschfressern, mit Faulenzern, mit Autodieben und mit dem ganzen Pack, das Gebiete besiedelt, die uns gehört haben, die zu uns kommen wie die letzten Schmarotzer und ihre Zelte aufschlagen, wo anständige Leute leben wollen.“
„Eben nicht“, sagte ich und wunderte mich selbst darüber, dass ich zu keinerlei Gewaltausbrüchen ausholte. „Würde ich mich mit diesen Gedanken identifizieren, müsste ich mich wohl oder übel auch Hand in Hand mit all den anderen engstirnigen Vorstädtlern gehen“ – an dieser Stelle meine Entschuldigung an alle Vorstädtlerinnen und Vorstädtler – „die Angst davor haben, ihr eigenes Leben würde im Strom der europäischen Vielfalt noch trostloser und trockener werden.“
Er schnaubte. „Deutschland ist weder trocken noch trostlos“, warf er ein.
„Ich weiß“, sagte ich und nickte, denn er hatte Recht. „Deutschland ist ein tolles Land mit einer tollen Sprache und durchaus anständigen Leuten. Aber genau so sieht es aus mit Polen. Und Frankreich. Und Griechenland.“ Ich brach meine Ausführung ab, in der Hoffnung, er kriege alle Mitgliedsstaaten allein zusammen. „Aber keines dieser Länder ist perfekt.“
Ich hatte es immer für logisch gehalten, dass man, sofern die Möglichkeit bestand, voneinander profitieren solle. Der junge Mann, der sich langsam abwandte, schien ein anderes Verständnis von Logik zu haben, als ich.
„Du wirst noch sehen, was du von deiner naiven Offenheit hast“, sagte er und ging.
Ich lebte weiter, offen und glücklich, überall dort zu Hause, wo ich ein Bett hatte.
Mit jedem neuen Land fühle ich mehr und mehr als Europäerin, denn ich lerne mehr und mehr über meine Möglichkeiten, meine Mitmenschen und Europas Schwachstellen.
Es gibt keinen Ort, dem ich nicht etwas Gutes abgewinnen kann und der mich nicht zum Nachdenken anregt. Ich möchte nicht verleugnen, dass ich Deutsche bin, denn ich bin zufrieden mit diesem Zufall, auch wenn mir das Wetter auf die Nerven geht.
Ich bin Europäerin und werde es immer bleiben. Europäerin mit deutschen Wurzeln.
März 2013