Die japanische Kleinkunst ist außerordentlich ausgeprägt.
Unsereins rafft sich zu Ostereierbemalung und Weihnachtssternebasteln auf, hier steht hinter jedem Hobby eine Philosophie.
Wir alle begegnen irgendwann in der Grundschule Origami, und sei es nur durch schlecht fliegende Papierflieger. Origami ist eine höchst aufwändige Technik, die Genauigkeit benötigt, Ruhe und Geduld. Doch Origami ist nur die Spitze des Eisbergs, mit der ich mich zugebenermaßen bisher nur zufällig beschäftigt habe, als ich in eine japanisch-indonesische Unterrichtsstunde geriet und gebeten wurde, zu bleiben. Ich profitierte von einem Blattgoldpapierschwan, der nun wunderschön meinen ungenutzten Fernseher verziert.
Heute bin ich früh aufgestanden, um einer Shodo-Klasse beizuwohnen. Shodo ist die Kunst der Kalligraphie von Schriftzeichen. Mit einer bestimmten Pinseltechnik wird auf Papier, Kalender und Postkarten kunstvoll ein Wort, ein Satz oder ein Gedicht gezaubert. Dabei geht es darum, seine Gefühle zu bündeln und alle Energie in die entstehende Botschaft zu stecken. Das jedenfalls steht in dem Informationstext, den man mir zusteckte. Um mich herum plapperten munter japanische Frauen herum, tranken Tee und schwebten mit ihren Pinseln über hauchdünnes Papier.
Schwarz auf weiß, ineinander verschlungene Striche, schlicht, aber dennoch von einer kühlen Schönheit. Ich setzte mich ambitioniert hin, atmete tief ein und wollte sofort beginnen. Ich durfte nicht. Ich saß eine Stunde lang an einem Platz und malte einzelne Striche auf ein Papier. Immer wieder die gleichen Linien, aus denen sich ein Schriftzeichen zusammensetzt. Und das morgens um zehn. Ich war zu Tode gelangweilt. Shodo werde ich in Zukunft nur noch aus der Ferne betrachten.
Zwei Dinge allerdings, die mir große Freude bereiten, sind Ikebana, die Kunst des Blumenarrangements, und Oshie, die Kunst, aus Stoff Wandbilder und Kleinigkeiten zu gestalten.
Ob es beim Oshie auch um das innere Gleichgewicht und die Balance zwischen Seele und Geist geht kann ich nicht sagen, doch es liegt nahe. Auf jeden Fall ist es eine spannende Sache, die zu Beginn nicht allzu kompliziert ist und doch viel Spaß macht. Noch dazu ist das Ergebnis äußerst präsentabel und von langer Dauer.
Anders verhält es sich mit Ikebana. Frische Blumen leben leider nicht ewig, aber die Herstellung ist ebenso toll. Ich liebe Blumen, ich bastle gern herum und so habe ich einige Tage einen kunstvoll dekorierten Wohnzimmertisch. Beim Ikebana geht es zufolge des Ikebana-Textbooks darum, sich ganz auf sich zu konzentrieren und seinen Charakter, sein Empfinden oder seine Wünsche in dem Gesteck auszudrücken. Das Ganze funktioniert nach gewissen Schemen, es gibt Konstanten in jedem Gesteck, starke Elemente wie Äste und schöne Akzente durch Blumen oder bunte Blätter. Das alles klingt viel spiritueller als es ist. Es geht einfach darum, sich auf eine Sache zu konzentrieren und seinem Instinkt zu folgen. Ich finde es bewundernswert, wenn so etwas in die traditionelle Kunst eingebunden wird. Es geht nicht darum, einem Zweck zu dienen, sondern einfach seiner Kreativität freien Lauf zu lassen.
Fast jedenfalls.
Ich habe bereits erwähnt, dass es für all diese Künste Regeln, Schnittmuster, Techniken gibt. Und diese Regeln, Schnittmuster und Techniken werden verfolgt. Auf den Punkt genau. Hingabe wird also anders definiert, als ich es gewohnt bin. Zwar soll ich ganz in meiner Tätigkeit aufgehen, aber niemals ohne dabei die Regeln aus dem Blick zu verlieren. Ich soll mich selbst ausdrücken – aber nur so weit, wie es in den vorgegebenen Rahmen passt. Ich soll etwas Eigenes schaffen, doch am Ende siegt immer die Perfektion. Sobald mein Eigenes anders ist, dem Regelwerk nicht entsprechend, ist es falsch. Ich darf also meine Gefühle ausleben – aber wenn diese Gefühle der Lehrerin nicht gefallen, werden meine Blumen ausgerupft und neu gesteckt, ohne wenn und aber.
Ich genieße meine Kunst noch immer, selbst wenn ich den Perfektionsanspruch dahinter anstrengend finde, doch was ich mich noch viel mehr frage, ist, wie viel dies über die Japaner selbst aussagt. Und ich beschäftige mich mit dieser Frage deshalb, weil diese Künste einen großen Stellenwert in der Gesellschaft einnehmen. Es gehört dazu, nicht wie bei uns das Töpfern, sondern mehr wie bei uns der Sportverein oder die Musikstunden.
All diese Dinge haben – ebenso wie Sport, Musik und verschiedene Zeremonien – das Ziel, sich zu finden und auszudrücken. Konzentriert, geduldig und in Harmonie mit dem Umfeld. Sobald aber etwas, das ich kreiert habe, etwas repräsentiert oder darstellt, das nicht dem entspricht, das im Buche steht, ist es falsch. Es wird nicht hingenommen. Anstatt in Kauf zu nehmen, dass ich, die ich das erste Mal Oshie mache, alleine meine Bilder klebe, klopft mir eine Lehrerin auf die Finger, die alles besser weiß und beinahe einen Nervenzusammenbruch erleidet, als meine Prinzessin am Ende ein kleines bisschen schielt.
Ich bin begeistert von dem Ansatz, von dem mir viele Texte erzählen, denn es ist beruhigend, klärend und interessant, eine Stunde lang Blumen anzuordnen, oder gedankenverloren Stoff mit Watte auszustopfen.
Ich kann nur für mich sprechen, doch ich stelle fest, dass ich es noch mehr genießen würde, wenn ich nicht ununterbrochen in dem Wissen leben würde, dass, egal was ich mache, es noch etwas besser – sprich richtiger – geht. Das finde ich anstrengend. Und auf die Dauer unglaublich ermüdend.
Januar 2014