Die Woche, die ich in Taipeh verbracht habe, habe ich oft meine Kamera im Hostel gelassen, um mir mehr Zeit zu nehmen, durch die Augen und nicht durch eine Linse zu bewundern, doch ich bin nie ohne Zettel und Stift aus dem Haus gegangen.
Und so habe ich versucht, so viele Eindrücke wie möglich niederzuschreiben, um einen Eindruck zu vermitteln, wie ich Taipeh bereist und erlebt habe.
31. Januar 2014 (Tag 1)
Osaka – Kansai Airport
Ich mag vielleicht ein spontaner Mensch sein, aber dieses Mal habe ich sogar meine eigene Spontanität übertroffen.
Samstagabend saß ich in einem Hotelzimmer in einer kalten, japanischen Kleinstadt und wollte raus, Donnerstag in der Früh war ich auf dem Weg zum Flughafen.
Nun ist Freitagmorgen, die Passkontrolle hat einen Departurestempel in meinen Pass gehauen und ich warte darauf mit dem Ryanair Südostasiens, dessen Wartehalle um einiges mehr farbenfrohen Comfort bietet, als jede mir bisher begegnete Lounge, in die Luft zu steigen.
Ich reise mit einem kleinen Rucksack, einer Bauchtasche und meiner Kamera – ohne Handy, ohne Computer, ohne Internet. Um so richtig in Backpackerstimmung zu kommen, hatte ich überlegt, zu couchsurfen, aber danach steht mir nicht der Sinn. Ich sitze hier und freue mich auf diesen Trip, weil ich mir einfach meinen Rucksack aufsetzen und losziehen kann. In diesem Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit und Grenzenlosigkeit möchte ich mich von nichts und niemandem einschränken lassen.
Draußen wird es langsam hell. Ich bin ausgeschlafen und vorfreudig. Entgegen aller Backpackerkonventionen habe ich mich vor meiner Reise in einem Hotel eingerichtet, in dem ich abends die Sauna und morgens den kostenlosen Shuttleservice genossen habe.
Gestern habe ich, da der Regen, der mich über meine mehrstündige Fahrt im Morgengrauen begleitet hatte, versiegte, als mein Bus zischend seine Türen öffnete, Osaka erkundigt. Als ich das letzte Mal in Osaka war, kämpfte ich nicht nur mit meinem Jetlag, sondern folgte auch dem Drängen meines Freundes, so schnell wie möglich nach Kyoto zu kommen. Ich sah von Osaka nicht mehr als einige gläsern verspiegelte Bürogebäude und das Schloss, machte mein bestes Foto von Japan und fuhr mit der JR-Line Richtung Kyoto.
Diesmal war niemand da, der irgendwelche Wünsche anmeldete, abgesehen von Magen und Blase, und so folgte ich, bewaffnet mit Karte und Metroplan, dem Ratschlag der freundlichen Dame in der Touristeninformation. Leider nahm ich den falschen Bahnhofsausgang, sodass ich mich nicht in einem idyllischen Park mit Zoo und Turm wiederfand, sondern in einer Straße landete, in der der Putz von graffitibeschmierten Häusern blätterte und die letzten Regentropfen auf Obdachlose und teilnahmslose Alkoholiker und ihre zerknautschen Bierdosen tropfte. Verglichen mit dem Japan, das ich kennen gelernt hatte, war es schockierend lieblos, verdreckt und heruntergekommen. Ein junger Mann schnalzte und lallte etwas, als ich vorbei kam, woraufhin eine keifende Frau mit gelben Haaren und schwarzem Ansatz über ihn herfiel und erst nachließ, als er sie grob gegen eine Wand stieß. Neben mir pinkelte ein Mann, ganz in Fell gekleidet, in eine schmutzige Ecke. Ich begegnete meinen ersten japanischen Tauben.
Ich war schockiert, denn diese Bilder passten nicht in meine heile, saubere Vorzeigewelt Japans mit dieser ungetrübten Perfektion.
Doch dann bog ich ab und kam wieder auf den richtigen Weg und sah die reinlichen Straßen, die in den Reisebroschüren abgedruckt waren, die ich in der Hand hielt. Bunt, voller Musik und einladender Kellner. Blühende Blumen, immergrüne Büsche, im Hintergrund trompetete ein Elefant. Ich schlenderte herum, machte ein paar Fotos. Doch mir war die Lust auf strahlende Tempel und einwandfreie Parks für den Moment vergangen.
Peace Park Taipeh
Wow. Wow wow wow. Ich sitze im Schatten zweier Palmen auf einer Bank unter strahlend blauem Himmel. Im grünen Teich, der rund um einen knallbunten Pavillon angelegt ist, schwimmen kleine Schildkröten und über mir zwitschern Vögel in einem knorrigen Baum. Es ist angenehm warm, die Sonne ist ungewohnt hell und um mich herum blühen bunte Blumen. Die Luft riecht irgendwie nach nichts, einfach nur leicht und sonnig und vielleicht mit einem Hauch frischer Wiese. Hinter mir rauscht der Verkehr gleichmäßig vor sich hin und die Menschen, die vorbei schlendern, plappern fröhlich miteinander und entzücken sich über die Eichhörnchen, die ihnen die Kekse aus der Hand klauen.
Der ganze Park strahlt Ruhe und Entspannung aus. Keine Musik oder Stimmen aus unergründlichen Quellen, keine Lautsprecheranlagen – einfach nur die klare, unverfälschte (wenngleich kunstvoll angelegte) Natur.
Diese Reise ist schon in den ersten Stunden ein voller Erfolg. Neben mir im Flugzeug saß ein junger Ingenieur aus Taipeh, der nicht nur Englisch, sondern auch Deutsch sprach, mir über Vor-und Nachteile seines Landes erzählte und mir seine Mailadresse gab – ich solle mich melden, wenn ich ein auch noch so kleines Problem hätte.
Der Herr am Pass blätterte durch meinen Pass und war nicht nur hoch erfreut, einen deutschen Pass erwischt zu haben, sondern sehr glücklich, dass ich aus allen Ländern in Asien Taiwan gewählt hatte. Ich werde nicht enttäuscht sein und solle meine Zeit schön genießen.
So freundlich wurde ich noch nie begrüßt. Ich besorgte mir einen Stadtplan von Taipeh (genial: alle Straßen auf Englisch, Metro- und Busstation und Touristspots eingezeichnet) und ein Busticket dorthin und unterhielt mich eine knappe Stunde mit dem jungen Mann, der mich schon während meines Flugs so gut unterhalten hatte, mir auf meine Bitte Basic-Mandarin beibrachte und mir ans Herz legte, ich solle mich nicht scheuen egal wen um Hilfe oder Rat zu bitten – man sei nicht nur gern bereit mir zu helfen, sondern freue sich ungemein über ein nettes Gespräch.
Ich stieg aus dem Bus, der Wind fegte mir sacht die Haare aus dem Gesicht und ich stand unter Sonne und Palmen im Herzen Taipehs, im unaufgeregten Gewusel des Bahnhofs. Ich konnte nicht anders, als strahlend meinem Instinkt zu folgen, ohne Ziel, ohne Plan – einfach los. Und nun sitze ich hier.
Chiang Kai-Shek Memorial Hall
Ich laufe und laufe und laufe, denn je mehr ich von dieser neujährlich leeren Stadt sehe, desto mehr liebe ich sie. Doch von Zeit zu Zeit setze ich mich, halte inne und genieße. Die warme Luft, den Duft der Blumen, die glitzernden Seifenbasen, die Pracht der Gebäude, die Bäume, die Büsche, die Menschen, das ganze wunderbare harmonische Miteinander. Man sieht mich, lacht mich an, redet mit mir, doch man mustert mich nicht mit unverhohlener, doch scheuer Neugier und löchert mich nicht mit Fragen jeglicher Art. Und ich sitze hier unter einer gigantischen Gedächtnishalle, frage mich, welcher Mensch ein solch pompöses Andenken verdient hat und bin einfach nur stillvergnügt und glücklich.
Alle, denen ich begegne, sind fasziniert, aber auch etwas skeptisch, dass ich alleine reise. „Was ist schon dabei?“, denke ich. Und dann erinnere ich mich, dass ich 20 Jahre alt und alleine auf der anderen Seite der Welt bin, in Taiwan. In einem der Länder, die ich kaum als richtiges Land wahrgenommen hatte und auf einer Karte niemals richtig hätte zuordnen können. Aber dann schaue ich mich um, und denke, dass ich mir durchaus auch tatsächlich gefährliche Plätze zum Reisen hätte aussuchen können und nicht gerade eine saubere, einwandfrei organisierte Großstadt voller hilfsbereiter, freundlicher Menschen, in der scheinbar jeder Englisch spricht.
Ich bin hier und stelle fest, dass dieses Taiwan ein Land mit einer der schönsten Hauptstädte überhaupt ist. Ich kann weder die Schönheit, noch meine Begeisterung in angemessene Worte fassen.
Cool Banana Hostel
Jetzt bin ich nach einigen Stunden mit müden Füßen in meinem Hostel, das mir von einer Couchsurfingbekanntschaft empfohlen wurde. Auch hier hatte ich keine Erwartungen, doch selbst wenn ich welche gehabt hätte – dieses Hostel hätte sie übertroffen. Stilsicher eingerichtet, total zentral, unglaublich sauber, gemütlich und eine einladende, freundliche Atmosphäre.
Ich habe nie ein 16-Betten-Zimmer gesehen, dass so heimelig war wie dies. Die Betten sind in die Wand eingelassen und neben der extragroßen Matratze bleibt ein Spalt für den eigenen Krams, alles mit einem schicken Vorhang von der Außenwelt abschirmbar.
Ich bin überwältigt von den Eindrücken des ersten Tages und werde mich ausruhen, um für das Chinesische Neujahr fit zu sein.
Xichang Street Tourist Night Market
Aus dem Ausruhen ist nichts geworden, da ich Hunger bekam und mir dachte, dass ich an einem der anderen 5 Tage etwas vom Neujahr mitnehmen könne (Der Chinesische Jahreswechsel ist um einiges zeitaufwändiger als unser Silvester und kann bis zu einen Monat in Anspruch nehmen). Ich zog mit einem anderen Hostelgast los, um einen der legendären Night Markets auszuprobieren. Wir genossen auf unserem Weg dorthin noch einmal den nächtlich beleuchteten Anblick der Chiang Kai-Shek Memorial Hall und schwätzen über dies und das und welche Städte man gesehen haben sollte und dass Paris einen Besuch eigentlich nicht wert sei.
Um uns herum hallten Böller und Knallfrösche, Kinder fuchtelten mit Wunderkerzen und auf den von Bäumen gesäumten Straßen sauste Jung und Alt auf Motorrollern und Vespern vorbei. Ein, zwei Leute mit Kind und Kegel, Hund und Einkäufen.
Ein Thermometer zeigte 23 Grad. Idylle in warmer Sommerluft.
Doch um die Ruhe war es schlagartig geschehen als wir die Night Market Area erreichten. Vor uns tauchten leuchtende Reklame und Blinklichter auf. Wir tauchten in die trubelige Welt des Nachtlebens ein. Straßenkünstler versuchten, durch ihre Performance einige Dollar einzubringen (mir ist vor allem ein kauziger alter Mann mit Tamburin und Weihnachtsmütze in Erinnerung geblieben, der quietschfidel im Licht einer Diskokugel hin und her sprang) und für einige Cents wechselten Ramsch, Souveniers, Gebrauchtes und Essen den Besitzer. Ich aß mich ein bisschen durch das Sortiment und wurde nicht enttäuscht. Dann um die Ecke tauchte das wahre Schlemmerparadies auf: begleitet von einem mir fremden sauer-beißenden Geruch wurde ausgelegt, was man in Nudeln, Suppe und Salat essen konnte. Gemüse, Fische, Seegetier, Schweinefüße, Hähnchen (letztere mit Kopf und Fuß, nur ohne Federkleid und mit glasigen Augen).
Mir war der Appetit vergangen und so sitze ich nun hier auf einer Mauer unweit des Longshan Tempels, verdeckt von einem zierlichen Bäumchen, das in einer überdimensional großen, kunstvoll bemalten Vase wächst. Neben mir rauscht ein kleiner Wasserfall unter Palmen, der Tempel ist von einer Wand aus leuchtend gelben Lampions umgeben. Menschenmassen reihen sich wartend vor kitschig blinkenden Figuren ein, unter denen durchzugehen Glück bringen soll. Sie zünden Räucherstäbchen an und stecken sie in einen großen Tontopf, von wo aus ihr Duft durch den ganzen Tempelhof und darüber hinaus zieht.
Der Tempel selbst ist eine wahre Pracht, man sieht auf Anhieb, dass er alt ist, doch er ist in Würde gealtert und präsentiert in dunklem Rot und Gold geschnitzte Muster und Malereien. Familien schlendern gemeinsam, mit einem Happen vom Night Market auf der Hand, umher, machen hier und da ein Foto und knien sich eventuell zu einem Gebet nieder.
Ich beschließe, dass dies genug Chinesisches Neujahr für heute ist, und mache mich auf den Heimweg.
Zurück im Hostel
Diesen Weg hatte ich ganz eindeutig kürzer in Erinnerung – aber ich spüre jeden Schritt der 3km langen Strecke in jedem einzelnen Muskel meines Körpers. Entgegen aller Sicherheitshinweise für allein reisende junge Frauen habe ich mich nur auf verlassenen Straßen bewegt. Aber das liegt vor allem daran, dass hier gerade alle Straßen, egal wie groß und prunkvoll sie sein mögen, wie ausgestorben sind. Abgesehen von Night Markets, Tempeln und Restaurants ist während des Neujahrs alles wie leer gefegt.
Ich bin hin und weg von den Kirschblüten, die fröhlich in der ganzen Stadt leuchten und das Grün auffrischen.
01. Februar 2014 (Tag 2)
Daan Park
Die Sonne scheint noch wärmer als gestern und ich flüchte mich in den Schatten der unzähligen Bäume, die nicht nur in den Parks zu finden sind. Aber da ich mir für heute viel vorgenommen habe, nutze ich die Gelegenheit, an jeder Ecke in einem kleinen oder größeren Park zu verweilen. Verschiedene Leute winken mir fröhlich zu, sagen „Hello“ und „Happy New Year“ und bestätigen, es sei eine gute Entscheidung hier zu sein.
Hinter mir ist eine Tai-Chi Gruppe, deren Tänzer (?) zu ihren eigenen Gesängen langsam ihre Körper bewegen. Unter einem kleinen Pavillon singt eine Gruppe älterer Menschen chinesische Lieder und ein munterer Mann in Weiß schiebt sein Fahrrad über die ebenen Spazierwege und trällert aus tiefster Seele was ihm in den Sinn kommt.
Menschen jeden Alters spazieren vorbei, viele Kinder tollen ausgelassen über den Rasen. Um mich herum blühen Magnolien, Kirschbäume und Rosen und aus einem Teich starrt eine Gruppe von Schildkröten Löcher in die Luft.
Ich sitze keine 50m von einer belebten Straße entfernt, doch der Straßenlärm wird von irgendetwas verschluckt; es seien die Bäume habe ich mir sagen lassen.
Gerade sehe ich, dass auch Nordic Walking seinen Einzug in die Taiwanesische Kultur erhalten hat.
Irgendwo auf der Renai Road
Am Ausgang des Parks habe ich einen Liter Orangensaft erstanden, der für knapp einen Euro frisch vor meinen Augen gepresst wurde und habe mit einem Blick auf meine Karte die Richtung zum Jade Market eingeschlagen. Der Markt an sich ist eine Ansammlung von Klapptischen unter einer rotgold verzierten Autobahnbrücke, auf denen kleine Kunstwerke, Schmuck und Teegeschirr zum Verkauf angeboten werden. Die Verkäufer stehen in Grüppchen zusammen, schwätzen und laden mit ausladenden Gesten dazu ein, ihr Sortiment zu begutachten.
Ich habe einen grünen Kettenanhänger zum halben Preis erstanden (und frage mich gleichzeitig, ob man von mir einen Feilschhandel erwartet hätte) und bin wieder an die frische Luft gegangen, woch ich mich am Ausgang mit einer jungen Frau angefreundet habe, die mir an ihrem Stand einen Cocktail aus Avocado und Früchten mixt. Es schmeckte traumhaft, aber hätte man mich blind damit gefüttert, hätte ich nicht einmal annähernd sagen können, was drin ist. Ich schlenderte, stillvergnügt an meinem Avocado-Shake schlürfend, los, Richtung Tapei101.
Irgendwann kam mir komisch vor, dass die Straßennamen (dankenswerter Weise ist hier jede noch so kleine Seitengasse nicht nur in Chinesisch sondern auch Englisch beschildert!) so gar nicht mit denen auf meiner Karte übereinstimmen. Nachdem ich mich fragend an einen Passanten gewandt hatte, musste ich feststellen, dass mich mein Orientierungsinn für einen Moment im Stich gelassen hatte. Ich kaufte mir – ganz untaiwanesisch – japanische Reisbällchen im Convenience Store (Ich traue mich noch nicht an taiwanesisches Essen, denn ich bin skeptisch gegenüber Essen, bei dem ich so gar nicht weiß, was drin ist und was gut schmeckt und mein Versuch, in ein Restaurant mit englischem Menü einzukehren scheiterte daran, dass Tische für Einzelpersonen nicht angeboten wurden).
Also sitze ich nun mit meinem Lachs-Reis-Bällchen am Straßenrand und beobachte einen weißen Schmetterling, der auf und ab flattert und von Zeit zu Zeit an den bunten Blumen links und rechts schnuppert, aber niemals verweilt.
Zhongshan Park (Sun Yat Sen Memorial Hall)
Ich wurde wieder einmal als Fotomodell zweckentfremdet und habe eine halbstündige Freundschaft mit zwei Frauen von irgendwo geschlossen, die kein Wort Englisch sprachen, aber mich sofort mit ihrem Lachen ansteckten. Vor der gelben Memorial Hall, die zwar in einen ebenso schönen Park gebettet ist, wie die andere, aber um einiges weniger prunkvoll erscheint, spielt ein Orchester und neben mir plappert fröhlich ein alter Mann, der von Zeit zu Zeit aufspringt um grüne Vögel in den rosa Kirschbäumen zu fotografieren.
Ich sitze am Ufer eines Teichs mit ausgetrockneten Seerosen auf grünem Wasser. Meine Füße tun weh. Natürlich könnte ich das einwandfrei ausgebaute Metro-System nutzen, aber ich möchte nichts verpassen und nehme gerne in Kauf, mich zu verlaufen, weil es bedeutet, neue Dinge zu sehen. Also schiebe ich lieber Pausen ein, massiere meine müden Füße und freue mich darüber, meine guten Schuhe mitgenommen zu haben, auch wenn sie ziemlich verranzt aussehen.
Um mich herum sausen Motorroller ohne Ende und parken in langen Reihen am Eingang des Parks. Ich bin unglaublich fasziniert von diesen Fortbewegungsgeräten und wünschte, ich wäre keine Touristin in dieser Stadt, sondern könnte selbst einfach aufsteigen und losdüsen. Ich weiß nicht, ob man Taiwan wirklich in seiner ganzen Fülle wahrnehmen und verstehen kann, wenn man nicht einmal mit all den Locals die Straße geteilt hat.
Pavillon im Zhongshan Park
In der Metro
Nun habe ich mich doch aufgerafft und nehme die Metro raus aus der Stadt Richtung Zoo. Alles steht auf Englisch beschrieben und sollte ich doch einmal etwas hilflos aussehen, steht man mir sofort zur Seite. Ich erwerbe einen Plastikchip, für den ich je nach Entfernung unterschiedliche Summen hergeben muss und spucke mein Kaugummi in einen der Mülleimer, da Kaugummis neben Essen, Trinken und Handys in der Metro nicht erlaubt sind. Ich laufe am Stillraum vorbei, in den Mütter mit ihren Kleinkindern gehen und wieder rauskommen und reihe mich ein, bis die Metro langsam angerollt kommt und Schiebetüren den Zutritt zulassen.
Nun sitze ich gegenüber einer faltigen Dame, die mich ununterbrochen anstrahlt und fahre oberirdisch durch steinerne Hochhaussiedlungen mit grün bepflanzten Balkons, zwischen denen zweistöckige Häuser mit Wellblechdächern oder Dachterrassen gebaut sind. Der Zug schiebt sich auf schmalen Brücken schlängelnd immer höher, in die grünen Berge hinein. Überall stehen Hochhäuser, die nicht besonders schön sind, aber von denen trotzdem ein gewisser Charme ausgeht und zwischen denen genug Platz zum Atmen gelassen wurde.
Die alte Dame steht auf. „I hope you know how beautiful you are“, sagt sie, zwinkert mir zu und geht. Ich strahle.
Zhinan Tempel
Vom Zoo, wo ich nur kurz für ein Trommelkonzert verweilt habe, und dann vor den Menschenmassen geflohen bin, wandere ich hoch durch ein kleines Städtchen bzw. den Ausläufen Taipehs mit niedrigen Häusern, an denen in mir unleserlichen Zeichen bunte Schilder für alles werben. Irgendjemand hat sich mal die Mühe gemacht, jeden einzelnen Stromkasten in und um Taipeh künstlerisch aufzuwerten, sodass ich alle paar Meter ein Landschaftspanorama passiere, versteckt in Hausecken und unter dunklen Bäumen mit tief hängenden Ästen.
Ich bin also wieder einmal gelaufen und gelaufen und folgte meiner Karte – und verlief mich dennoch. Es war nicht weiter dramatisch, denn ich fand mich an einem hübschen kleinen Kanal wieder, über dem schwarze Schmetterlinge mit spitzen Flügeln schwirrten. Über mir schwebten die Gondeln, die dorthin fuhren, wo ich sein wollte und gegen die ich mich entschieden hatte, weil ich keine 2 Stunden wartend herum lungern wollte, um dann einen großen Haufen Geld her zu geben. Es war heiß und ich gab auf, wanderte zurück, kippte 0,6l Wasser (hier wird fast alles in 0,6l-Flaschen verkauft) und nahm einen Bus für einige Meter, bis ich den Zhinan Tempel ausgeschildert sah und weiterstapfte. Um den Tempel zu erreichen, musste ich unzählige Treppen im wohltuenden Schatten von dunklen Palmen und pinken Kirschbäumen hochsteigen und klammerte mich atemlos am weißen Holzgeländer fest. Die Anstrengung lohnte sich, denn nach der letzten Stufe thronte einer der schönsten Tempel, die ich je gesehen habe, weit über mir am Kopf der letzten breiten, tief ausgetretenen Steinstufen und unter mir breitete sich das Panorama Taipehs in der warmen Nachmittagssonne aus. Ich erklomm die letzte Hürde und genoss den Tempel in seiner ganzen neujährlichen Pracht. Der Tempel ist meiner Ansicht nach schon an sich sehenswert, denn er strahlt wunderschön, eingebettet in der malerischen Landschaft, doch aufgeschmückt mit roten Tischen voller kulinarischer Opfergaben und Blumengestecken in strahlenden Farben sieht es einfach traumhaft aus. Vorne, vor Reihen betender Menschen stehen Mönche in roten Gewändern, die tiefe Mantren summen. Ich sitze auf einem Mäuerchen mit einem plätschernden Wasserfall im Rücken, auf meinem Block sitzt regungslos eine dicke, schwarze Fliege und vom Tempel zieht der sich vermischende Geruch von frittiertem Fleisch und Räucherstäbchen.
Ich bleibe auf dem Berg, bis die Sonne riesengroß und blutrot untergeht und die Dämmerung alles in zwielichte Schatten wirft, aus denen schwarz der Taipei101 mit seiner Fächergestalt hervorsticht, ehe ich mich an den Abstieg mache und mit einem Bus zurück zum Hostel fahre.
Ich bin überwältigt von Eindrücken, Sinneswahrnehmungen und Gefühlen und alles, was ich möchte, ist, in meine Koje zu kriechen und zu schlafen.
Irgendwo unweit des Shilin Night Market
So viel zum Thema Schlafengehen.
Ich hatte, meinem Magen folgend, im Hostel nachgefragt, was man mir fürs Abendessen empfehlen könne, doch da mir all die chinesischen Namen nichts sagten, zog ich gemeinsam mit einem Staff, den ich altersmäßig glatt 7 Jahre jünger geschätzt hatte, los.
(Und an dieser Stelle beginnt der Teil, von dem womöglich meine Mutter besser nichts wissen sollte, aber was kann man machen, publik ist publik und ich lebe ja noch).
Er reichte mir einen Helm, und ehe ich mich versah, saß ich auf einem Motorrad und sauste durch ausgestorbene Straßen in Richtung eines Night Markets, der, wie er mir erklärte, im alternativen Viertel Taipehs liege, wo sich junge Erwachsene treffen, die mit langen Haaren und Bart gegen die traditionellen Ansichten ihrer Eltern und den chinesischen Einfluss rebellieren, wo Indiekonzerte gespielt werden und Unabhängigkeitsparolen an den Wänden prangen.
Wir aßen in einem Blechschuppen, dessen Küche bis auf die Straße reichte, und der von draußen weitaus heruntergekommener aussah als drinnen, aber in Deutschland – oder Japan – niemals als Restaurant durchgegangen wäre. Doch hier kam man von der Straße, setzte sich auf einen der Holzhocker und kreuzte auf einem Zettel an, was man zu essen wünschte. Wir teilten uns 3 Gerichte – Reis, Blätter, Fleisch. Ich weiß nicht, was es war, aber es schmeckte fantastisch und ich hatte das Gefühl, das erste Mal in Wochen (abgesehen von den italienischen Köstlichkeiten in the cottage in Kanazawa) richtig gut gegessen zu haben. Mein erstes taiwanesisches Essen und auch hier war ich begeistert. Ich schwebte im kulinarischen Himmel. Wir kauften Orangen-Rosen-Eistee mit Gummibärchen drin, der die Zähne zum Knirschen brachte und setzten uns auf Holzstufen unmittelbar neben einem Unigebäude. Um uns herum rannte ein Hund in Superman-Kostüm im Kreis und junge Menschen in Chucks und lockeren Hemden teilten sich ihre Bubble Teas. Ich erfuhr eine Menge über taiwanesische Geschichte und vor allem, dass Taiwan nicht China ist. Taiwan sei ein Land mit einem ausgesprochen guten Bildungssystem und einwandfreier Infrastruktur in dem das größte Problem die klaffende Lücke zwischen Lohn und Kosten sei, aber vor allem sei es eine Demokratie.
Er fragte mich immer wieder, was wir Deutschen über Taiwan und China denken und ich schämte mich fast ein bisschen dafür, dass ich mir niemals Gedanken darüber gemacht hatte. Er nahm es schulterzuckend hin, fragte „wieso auch, ich kenn mich mit Polen doch auch nicht aus“ und fragte plötzlich aus heiterem Himmel, ob ich nicht Lust auf einen Ausflug in die Berge hätte, es gebe dort einen fantastischen Ausblick auf Taipeh bei Nacht. Ich wägte kurz ab, wie töricht es sein könnte, mit einem fast-fremden jungen Mann mitten in der Nacht auf einem Motorrad ins verlassene Niemandsland zu fahren und er schien meine Zweifel zu sehen. „Mein Boss bringt mich um, wenn du morgen nicht gesund und munter am Frühstückstisch auftauchst“, sagte er und lachte. Ich dachte an meine Mutter, aber schließlich war sie nicht hier. „Wie viele Unfälle hattest du schon in deinem Leben?“, fragte ich ihn. Er krempelte seinen Ärmel hoch und zeigte eine Narbe, die vom Handgelenk zum Ellenbogen reichte. „Einen. Das war vor knapp 10 Jahren und ich war betrunken.“ Ich weiß nicht, warum das Vertrauen in mir weckte, jedenfalls stieg ich wieder auf das Motorrad und klammerte mich fest, während wir vorbei an wunderschön angstrahlten Gebäuden, unter Palmen, durch von leuchtender Deko gesäumte Straßen unter dem imposant aufragenden Taipei 101 hindurch immer weiter raus aus der Stadt fuhren, bis die Häuser am Straßenrand in immer größeren Abständen standen und das Motorrad knatternd die dunklen Berge hinaufächzte, vorbei an Tempeln, Schreins und heißen Quellen. Links neben uns klafften schroffe Feldwände und rechts von uns taten sich Abgründe auf, an denen struppige Hunde lungernden und darunter strahlte Taipeh, hell erleuchtet.
Ich hatte die ersten 5 Minuten auf dem Motorrad meinen Fahrer fast erdrückt, weil ich mich verkrampft in seine Seiten gestemmt hatte, doch schon nach kurzer Zeit ließ ich locker, entspannte und ließ die verschwimmende Umgebung auf mich wirken, während der Wind mir ins Gesicht fegte.
Irgendwann waren wir auf dem Gipfel und dieser Moment war so überwältigend, dass ich noch immer ganz atemlos bin. Meine Müdigkeit war verflogen, Adrenalin strömte durch meinen Körper. Über mir in der Stille nur der schwarze Himmel mit funkelnden Sternen, zum Greifen nah, um mich herum mächtige Silhouetten schwarzer Felsen und ganz weit weg zwischen zwei Bergkuppen Taipeh mit seinen von hellen Lampen gesäumten Straßen. Und gerade als ich dachte, der Moment könne besser nicht werden, ging ganz in der Nähe ein Neujahrsfeuerwerk los und die Raketen sausten pfeifend in die Luft und ergossen sich funkelnd und leuchtend in bunten Farben und Mustern vor der schwarzen Unendlichkeit.
Jetzt sitzen wir wieder in der Stadt, es ist viel zu spät und wir essen einige Köstlichkeiten, die wir auf dem sehr zu empfehlenden Shilin Night Market, der um diese Uhrzeit von allen Touristen verlassen ist, noch ergattern konnten.
02. Februar 2014 (Tag 3)
Confucius Temple
Mein Plan heute war, nach Jiufen zu fahren, ein kleines Städtchen zwei Stunden von Taipeh, denn eine unglaublich sympathische junge Taiwanesin, die ebenfalls in meinem umwerfenden Hostel arbeitet, hat es mir empfohlen, doch ich war zu müde, um in einer Schlange hinter viel zu vielen Dutzend Menschen, die bei dem guten Wetter am freien Tag die gleiche Idee hatten, zu warten und einen Bus nach dem anderen ohne mich wegfahren zu sehen. Also spazierte ich zum Ufer des Xindian Flusses, folgte dem Flussverlauf einige hunderte Meter und scheiterte dabei, mir ein Rad zu leihen (auch hier war ich nicht die einzige mit der Idee). Ich nahm dies als ein Zeichen, dass es einfach nicht so sein solle und ich meinen müden Körper nicht mit aufregenden Erlebnissen überfordern solle.
Also bin ich einfach weiter Richtung Norden spaziert, mit Betonwänden von Hektik und Lärm der Stadt abgeschirmt, habe den Ausblick auf Berge und Stadt genossen, die fischige Hafen-Flussluft geschnuppert und Vögel beobachtet. Dann bin ich wieder in die Stadt eingetaucht, durch Straßen, deren Läden bis auf die überdachten Fußwege reichen und wo unter den Vordächern in großen Metallpfannen gekocht wurde (die Süßkartoffeln ließen mir das Wasser im Mund zusammen laufen!). Dicht an dicht reihten sich die Motorroller und in den Nebenstraßen spielten Kinder unter der Aufsicht von Eltern mit Bällen, Frisbees und Holahoop-Reifen. Einige Katzen lagen dösend im Halbschatten auf warmem Asphalt und ich stapfte munter durch den Trubel (der sicherlich so trubelig gar nicht war). Immer wieder kam ich an einem kleinen Schrein vorbei, dessen Räucherdüfte die Straßengerüche überdeckten.
Nach einiger Zeit tauchten wieder Touristen auf und ich näherte mich dem Bao’an-Tempel. Ich spürte den zurückgelegten Weg in jedem Muskel meines Körpers. Ungelogen, jedem. Doch der Tempel ist einen Besuch wert, wenngleich der Kommerz von Heißluftballons und Streetfood die Harmonie etwas stört. In das Dach des Tempels, unter dem gelb gekleidete Mönche um Spenden baten, waren kunstvolle Szenen eingeschnitzt, ein Drache spuckte Wasser in einem Teich und in den Kirschbäumen hingen rote Lampions. In einer von einem Wasserfall verschleierten Höhle standen, mit welcher Funktion auch immer, einige Figuren, die in ihrer etwas kitschigen Gesamtheit in dem nassen Felsen stehend, nett anzuschauen waren.
Ich bin noch einige Meter weitergezogen und sitze nun im von Lampions geschmückten Hinterhof des Konfuzius Tempels und rekonstruiere die Gespräche, die ich mit einigen jungen Taiwanesen über seine Lehre hatte. Ihr Grundtenor war, wie anstrengend es ist, immerzu nach Perfektion zu streben, die nie erreicht werden könne und dem Gruppenzwang verpflichtet zu sein. Hier im Hof ist nicht viel los und das passt mir ganz gut. Die Menschen sammeln sich betend im Tempel und um die Räuchertöpfe. Ich sitze hier, denke langsam und nicht allzu viel, nur, dass es gar nicht so eine schlechte Idee wäre, zurückzukommen und länger in Taipeh zu bleiben.
Ich bin so begeistert von der Stadt, ich möchte mehr darüber lernen, ich möchte mehr Freundschaften schließen, mit Menschen, die offen und kontrovers über alles reden, das ihnen in den Sinn kommt. Ich möchte aus Taipeh hinaus und den Rest von Taiwan erkundigen, aber ich bin gerade so zufrieden damit, einfach herum zu sitzen, den makellosen Himmel anzusehen und nachwirken zu lassen, was alles passiert ist und womöglich noch passieren könnte.
Cool Banana Hostel
Dass so etwas passieren würde, damit hätte ich nun nicht gerechnet. Nachdem ich erschlagen wieder ins Hostel kam, setzte ich mich in den gemütlichen Gemeinschaftsraum und begann ein Gespräch über dies und das mit den jungen Frauen hinter der Rezeption. Einer der Staffs feierte in einem etwas größeren Schuppen seinen Abschied vom Team – und ich wurde gefragt, ob ich nicht mitkommen wolle. Also fand ich mich eine Stunde später an einem großen runden Tisch wieder, dessen Mitte aus einer Drehscheibe bestand. Wir alle hatten ein Schüsselchen Reis vor uns stehen und auf der Drehplatte standen bestimmt 30 verschiedene Gerichte aller Art, scharf, sauer, süß, fest, flüssig, in allen erdenklichen Farben. Die Gespräche schwappten in Chinesisch über den Tisch, wir teilten unser Essen und man übersetzte für mich, sodass ich mitlachen konnte, wenngleich auch einige Minuten versetzt. Wir teilten uns ein paar Flaschen Bier, das aus Shotgläsern genippt wurde, und ich fand es angenehm, mich in einer Kultur wiederzufinden, in der es nicht zum guten Ruf gehört, sich gemeinsam abzuschießen.
Wir saßen zusammen in diesem lieblosen Raum, der von fröhlichem Geplapper und Gelächter erfüllt war und in seiner Gesamtheit ganz und gar nicht verwahrlost wirkte, sondern einfach nur unaufgeregt seinen Zweck erfüllte. Ich unterhielt mich mit meiner Nachbarin über alles und nichts, angefangen bei unserer Lieblingsmusik über kulturelle Erwartungen an junge Erwachsene, Gleichberechtigung und die bewundernswerte Souveränität und Unabhängigkeit europäischer Frauen bis hin zu privaten Themen. Für sie beispielsweise war es unvorstellbar zu hören, dass es in Deutschland Gang und Gebe für junge Frauen sei, die Pille zu schlucken. All die fremden Hormone, die Nebenwirkungen und dann liege doch auch die ganze Verantwortung bei der Frau, oder nicht?
Wir redeten dahin, mal unter uns, mal über den ganzen Tisch und lachten zu den Absurditäten, die die japanische Freundin des gehenden Staffs zu erzählen hatte (und ich wand mich mit der Antwort auf die Frage, warum europäische Frauen eher nicht auf Asiaten stehen – denn wie vermittle ich einem sympathischen jungen Mann auf charmante Weise, dass sich wacker das Gerücht (?) hält, Männer von hier seien nicht besonders großzügig bestückt?).
Der Tisch leerte sich für mehrere Stunden nicht und als wir alle die Gürtel lockern mussten, zogen einige von uns weiter, in einer rockigen Kneipe, wo Peacezeichen an den Wänden prangten, Alternative und Rock aus den Boxen kam und zwei Barkeeper mit bunten Haaren unsere Cocktails mixten. An den Tischen neben uns spielten kleine Grüppchen Kartenspiele, meine Gruppe verfiel kurz in Schere, Stein, Papier bei dem der Gewinnende dem Verlierenden eine Ohrfeige verpassen konnte, und ließkurze Zeit lachend wieder ab, während sich die Beteiligten die Wangen hielten und über meinen verstörten Blick scherzten. Wir tranken und redeten und spielten etwas Karten, lernten einige andere Gäste kennen, und ließen die Nacht immer jünger werden.
Irgendwann löste sich die Gruppe auf und so wanderte auch ich mit dem letzten verbleibenden Staff zurück zum Hostel und war sehr dankbar über die Begleitung, denn es dauerte eine Weile, ehe ich mich in einer Straße wiederfand, die ich vage wieder erkannte.
Jetzt liege ich auf meiner Matratze in dem warmen Zimmer, betrachte die Karte von Taipeh, die ich aufgehängt habe und meine Hand schmerzt etwas vom verkrampften Schreiben. Unter mir schnarcht ein japanischer, herrlich abgedrehter Künstler ganz grauenvoll und hinter einem Vorhang einige Betten weiter kichert eine Frauenstimme unterdrückt.
Mal schauen, zu was ich morgen in der Lage bin.
03. Februar 2014 (Tag 4)
Daan Park
Nachdem ich lange genug geschlafen habe, bin ich frisch und munter, aber dennoch nicht in Sightseeing-Stimmung. Außerdem hat sich gestern Abend der Plan verfestigt, einfach alle Zelte in Japan abzubrechen und zurück nach Taiwan zu kommen. Ich könne doch einfach für Kost und Logis im Hostel arbeiten. Also kann ich mir alle Zeit der Welt lassen, mich mit einem Orangensaft unter einen der Bäume auf der grünen Wiese im Daan Park setzen, der Kampfkunstgruppe vorne zuschauen und den Vögeln lauschen.
Ich habe mein Buch mitgenommen und lasse es nun nach einigen Kapiteln links liegen, damit mir für die verbleibenden Tage und den Flug noch etwas davon bleibt.
In den letzten Tagen habe ich immer häufiger gehört, dass ich ziemlich verrückt sei. „You are a crazy girl, Marie“ – gefolgt von einem überaus sympathischen Lachen. Crazy ist ein Kompliment, vor allem hier, denn crazy ist unkonventionell, emotional und locker. Nur wer abgedreht genug sei, könne das Leben richtig auskosten. Ich finde, es gibt durchaus schlimmere Charakteristika als Verrücktheit. Denn wie sagte Erasmus von Rotterdam einst? „Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit“. Ich hatte das beinahe ein bisschen vergessen, bis ich hier herumstreunte und tagtäglich daran erinnert wurde. Und es stimmt in der Tat. Ich bin glücklich und nicht nur glücklich, sondern unaufgeregt zufrieden. Einfach happy halt.
Ich habe den Vormittag damit verbracht, mich vor der Hitze draußen im Hostel zu verkriechen und durchs Internet zu klicken, um mich wieder etwas in die Welt einzuklinken. Ich stieß auf einen Artikel, der mit der Aussage „Dieser Artikel ist meiner Generation gewidmet, also jenen, die jetzt um die 20 Jahre alt sind. Ich bin einer von euch – und ich hasse euch“ einleitete und sich damit beschäftigte, wie grauenvoll oberflächig wir alle seien. Ich hatte mit einigen meiner taiwanesischen Bekanntschaften darüber geredet, wie viele Twens in Deutschland gerade die Idee haben, darüber zu schreiben, in was für eine grauenvolle Generation sie hineingeboren wurden, deren größtes Problem die Oberflächigkeit sei, die sich im Grunde aber aus Planlosigkeit und Zukunftsängsten ergebe. Ich erzählte über Hipster, die nach Individualität strebten und dennoch alle gleich seien, in ihren maschinengefertigten Strickpullis und mit zerzausten Haaren und über den unbedingten Wunsch nach Individualität auf der einen Seite – und das Streben nach Cliquenzugehörigkeit und den gleichen langen Beinen auf der anderen.
Man verstand es nicht. Für sie sei Europa das Paradies der Individualität. Da könne man tun, sagen, tragen was man wolle. Man könne lieben, leben, hassen ganz wo einem gerade der Sinn nach stehe, nicht wie in Taiwan.
Ich deutete auf das Bärtchen, die langen Haare, das lockere Hemd, die Röhrenjeans und die Boots desjenigen, der mich auf dem Motorrad mitgenommen hatte. „Du bist doch ein absoluter Hipster.“
„Ja, aber das ist was anderes. Ich streite mich täglich mit meinen Eltern über meine Haare und meinen Bart und meinen schrecklichen Stil. Ich habe Journalismus studiert und lebe in den Tag hinein – das ist gegen die Norm.“
Hier sind die Hipster die richtigen Hipster und in 30 Jahren werden ihre Kinder vielleicht auf die Suche nach Selbstentfaltung gehen und daran frustrieren, dass sie, ohne viel dafür machen zu müssen, zu viele Möglichkeiten haben.
Wie dem auch sei, ich sitze hier herum und langsam kühlt es sich ab, was ich nur begrüßen kann, und wundere mich, dass so viele meiner Altersgenossen so viel mehr Zeit damit verbringen, anderen zu beweisen, dass sie cool und anders sind, anstatt einfach loszugehen und ihr Ding durchziehen. Das ist schließlich, das mich jetzt inmitten von Vogelbeobachter nach Taipeh gebracht hat, obwohl ich an sich mitten in meinem 3. Semester bin und Taiwan mit Europa doch nichts zu tun hat.
Gott sei Dank, dass ich einfach machen kann, wonach mir der Sinn steht und Eltern habe, die mir vielleicht mal anraten, eine Nacht über eine Entscheidung zu schlafen, aber doch immer hinter all meinen Entscheidungen stehen. Selbst wenn das heißt, ohne Handy und Kontaktadresse über dem Pazifik herumzufliegen.
Ich habe das Gefühl, das Mittagessen ist über, denn mit einem Mal füllt sich der Park mit jungen Familien, deren kleine Kinder aufgeregt zu den bunten Spielplätzen laufen, die mich als Kind auch sehr gereizt hätten.
Ich habe ein kurzes Gespräch mit einem jungen Mann, der unbedingt mal nach Deutschland möchte, denn er habe gehört, Berlin sei eine super Stadt und der mich etwas amüsiert auf meine Bauchtasche hinweist. Ja, meine Bauchtasche. Meine Bauchtasche ist eine von diesen extraflachen, farblosen Modellen, die dafür da sind, unsichtbar unter dem Shirt getragen zu werden.
Ich habe versucht, meine etwas aufzuschmücken, aber dann ist mir mein Wasserglas darüber gelaufen und von meiner Tulpe ist nicht viel übrig geblieben, also habe ich einen klimpernden Glücksbringer dran gehängt und gut ist. Nun habe ich diese Bauchtasche aber nicht, weil ich Sorge habe, man würde mich ausrauben, sondern weil ich gerne die Hände frei habe, wenn ich herum laufe. Und in meiner Bauchtasche ist Platz für alles, was mein Reiseherz begehrt, angefangen natürlich mit Geld und Pass, über Zettel, Stift, Pflaster, Desinfektions- und Deotücher, Schmerztabletten, einem Foto meiner Familie bis hin zu meinem Stadtplan. Ich trage diese Bauchtasche öffentlich sichtbar irgendwo, wo sie halt gerade klimpernd rumhängt, denn ich kann damit leben, dämlich auszusehen, bin aber zu eitel, um für schwanger gehalten zu werden.
Die Sonne steht immer tiefer. (Ich begebe mich auf den Weg zurück zum Hostel, kaufe einen Tee und köstlichen Ananaskuchen für Bekannte in Japan und ziehe mich für den Abend um: Ich wurde zu einem neujährlichen Grillen am Flussufer eingeladen.)
Westufer des Tamsai Flusses
Mit der Entschuldigung, ich müsse kurz schreiben, wie wunderbar all das hier ist, habe ich mich von der Gruppe getrennt und sitze für einige Minuten auf einer der kleinen Bänke, die aus den Buchstaben LOVE gebaut wurden, und starre auf das dunkle Flusswasser, das die Lichter der Stadt reflektiert.
Ich bin wieder auf dem Motorrad gefahren und bin darüber sehr froh, denn ich liebe es und mein Fahrer ist auch froh, seit ein Bekannter ihn mit einer Europäerin auf seinem Motorrad gesehen hat, weil ihm das einen absoluten Coolness-Bonus gibt. Win-win.
Zusammen mit mir sind wir sieben. Wir grillen Fleisch, Wurst und lauter kleine Pilze und Gemüschen, die ich nur so ungefähr benennen kann. Wir sind nicht die einzigen jungen Menschen, die sich hier zusammen gefunden haben, um Feuerwerk zu zünden und so ist der Himmel ununterbrochen bunt angesprenkelt, während in der Ferne wieder einmal Taipei 101 strotzt, von Rauch und Wolken etwas verschleiert. Es nieselt ein kleines bisschen kaum spürbar und der Duft von unserem Grill zieht herüber. Wir trinken Tee und haben uns 4 Flaschen Bier zum Anstoßen geteilt. Aus dem Bier wäre beinahe nichts geworden, da wir keinen Flaschenöffner hatten, doch das war für mich ein Moment zum Angeben. Ich bat um ein Feuerzeug und öffnete galant die erste Flasche unter den bewundernden Blicken der anderen. Ich glaube, ich war nie in meinem Leben so cool.
Dachterrasse – Cool Banana Hostel
Was für eine Nacht mit so unglaublich tollen Menschen! Wir aßen, redeten übers Leben und übers Reisen und tauschten Anekdoten aus, spielten Basketball, zündeten Raketen und schlugen Räder am Ufer. Ich versuchte, etwas Chinesisch aufzugreifen, aber ich kam über einige holprige Worte, die die anderen zu ausgelassenem Gelächter veranlassten, nicht hinaus. Bevor wir uns trennten, machten wir Pläne für eine Wiederholung im März, sobald ich zurück sei.
Als wir zurückfuhren, regnete es leicht, die feuchte Luft wickelte meine Haare um meinen Helm und ich kam ausgelassen und zerzaust im Hostel an.
Es regnet noch immer und der dunkle Himmel ist wolkenverschleiert, morgen wird es wohl nicht so traumhaftes Wetter geben. Aber was soll‘s, es wird ja nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich Taiwanesische Sonne gesehen habe.
Zhinan Tempel
04.02.2014 (Tag 5)
Ein unglaublich süßes Café, Xinyi Road
Wie erwartet versteckt sich die Sonne hinter Wolken und Regen. Also kann ich meiner Lieblingsbeschäftigung nicht nachgehen und muss mir eine Alternative für Parks suchen.
Ich habe mir einige der Ausstellungen in der C.K.S. Memorial Hall angesehen und möchte nachher mal die Leute in meinem Hostel fragen, was sie davon halten, dass einem Chinesen, der von der Japanischen Army ausgebildet wurde und dann nach dem Krieg Taiwan unter seine Fuchtel genommen hat, eine so riesengroße Gedenkstätte gebaut wurde, die weit in den Himmel reicht und dessen Ausstellung ihn in den höchsten Tönen lobt – alles errichtet von Chinesen.
Eine der Ausstellung beschäftigte sich mit Vermeer und hatte alle seine Gemälde ausgestellt – als HD-Druck. Ich habe dennoch einiges lernen können und das ist schließlich die Hauptsache.
Und nun sitze ich hier in diesem kleinen Café, trinke Rosentee (Es ist wohl keine Überraschung mehr, dass auch der Tee in Taiwan köstlich ist) und wechsle zwischen Buch und Block.
Der Verkehr auf den Straßen normalisiert sich langsam – die große Neujahrsfeierei ist vorüber.
Noch ein süßes Café, irgendwo
Ich bin durch einige Straßen geschlendert, habe einen Abstecher in den nassen botanischen Garten gemacht und hier und da ein paar Kleinigkeit probiert, die mich nicht enttäuscht haben.
Gleich werde ich irgendwann zurück ins Hostel, um meine Abreise vorzubereiten.
Der Plan für Abends ist ein vorerst letztes taiwanesisches Abendessen.
Wieder einmal im Hostel
Ich hatte ein tolles Gespräch über Frauen und Gleichberechtigung, wieder einmal, mit einer jungen taiwanesischen Frau, die ich schon jetzt zu meinen Freundinnen zähle. Wir redeten über japanische Frauen und das Ideal, vor allem süß zu sein und sie stimmte mir zu, dass das ganz schrecklich sei und sie dankbar ist, dass wenigstens dies nicht zu taiwanesischer Tradition gehöre. Ihre Eltern seien ganz schrecklich auf Norm und Konvention bedacht, aber ob ihre Tochter arbeite oder heirate und eine Familie gründe, das sei ihr ganz nach Belieben überlassen. Dennoch, meinte sie, schienen europäische Frauen mutiger, würden unglaublich frei, unabhängig und stark sein. Die besten Frauen, die sie in ihrem Leben je getroffen habe und die ihr ein richtiges Vorbild wären, das seien alles Europäerinnen gewesen. Allerdings stellte sich heraus, dass es sich dabei um weniger als ein Dutzend handelte, die sie alle rucksackreisend in Taiwan kennen gelernt hatte. Ich erzählte, dass auch die deutsche Durchschnittsfrau nicht einfach drei Shirts in eine Tasche schmeiße und los ziehe und sie meinte, das sei beruhigend, denn dann fühle sie sich, die sich in ihren Wünschen und Zielen so anders zu ihren Bekannten und Gleichaltrigen fühle nicht ganz so fremd und sehe sich einfach als toughe Frau neben toughen Frauen aus Europa und wir nahmen dies zum Anlass, mit Ananasbier anzustoßen, das ziemlich verrückt schmeckt.
05.02.2014 (Tag 6)
Irgendwo über dem Pazifik
Ich bin müde, meine Beine sind steif und ich bin unfassbar glücklich. Ich habe einen letzten Abend damit zugebracht, billig aber lecker taiwanesisch zu essen und ein bisschen durch die Straßen zu spazieren, vorbei an all den heißen Quellen Taipehs. Ich wies meine Begleitung auf all die Hotels hin und meinte, ich wolle nächstes Mal in so einem wohnen, wo man seinen persönlichen Anschluss an die heißen Quellen habe und er schmunzelte und meinte, die meisten Hotels hier würden eher stundenweise an Pärchen vermietet und er empfehle die Heißen Quellen, die weiter in den Bergen liege.
Ich fiel früher als sonst ins Bett und schlief lange, denn ich war völlig geschafft von allem.
Heute habe ich nicht viel gemacht. Ich habe Rosentee getrunken, mein Buch weiter gelesen, festgestellt, dass sogar das Starbuckssortiment unglaublich anders ist, als das Europäische (das dem Japanischen gleicht) und Postkarten eingeworfen.
Mittags war ich mit einigen neuen Freunden Essen, ehe ich mich mit dem Versprechen, mich zu melden, sobald ich meine Flüge nach Taipeh umgebucht habe, verabschiedete und mich auf dem Weg zum Flughafen machte. Ich kam noch einmal durch einen Park und trödelte fast eine dreiviertel Stunde herum, ehe ich mich sputete, rechtzeitig zum Flughafen zu kommen.
Die junge Frau am Flughafen stellte erfreut fest, dass ich Deutsche sei und erzählte, sie lerne Deutsch seit einigen Jahren, doch könne es fast nie anwenden. „Ich komme im März zurück“, sagte ich. „Wir könnten uns treffen“, schlug sie vor und ich gab ihr meinen Namen.
Ich wäre gern geblieben, aber ich bin nicht allzu traurig, denn ich freue mich darauf, nach Japan zurück zu kommen, von meinen Erlebnissen zu berichten, meine Sachen zu packen und weiterzuziehen.
Ich wäre traurig, wüsste ich nicht, wann ich zurück komme. Doch meine Tage außerhalb von Taiwan sind gezählt und zwischen heute und dann liegt eine Reise in den Süden Japans und eine nach Hongkong.
Es ist ein schönes Gefühl, unterwegs sein zu können, ohne rastlos zu sein, ohne auf der Flucht zu sein, sondern einfach nur, weil es toll ist, mal hier und mal dort zu schlafen und irgendwann an einem Ort zu bleiben, an dem es einem gefällt, in dem Wissen so lange bleiben zu können, wie das eigene – und nur das eigene – Herz es begehrt.
[…] uns immer gekannt hätten. Anschließend zog ich weiter und verliebte mich auf den ersten Blick in Taiwan und in Taipeh im Besonderen. Mein ganzes Leben wurde auf den Kopf gestellt und ehe ich mich versah, lebte und […]