Ich wurde gestern in meinen Vorurteilen bestätigt. Was heißt Vorurteile – ich wurde in dem bestätigt, was ich aus Zentraleuropa kommend beobachtet und insgeheim und nur für mich etwas verurteilt hatte.
Gestern traf ich mich mit einem jungen japanischen Studenten. Wir aßen Unmengen japanischer Köstlichkeiten aus Sardinen und tranken Sake in verschiedenen Versionen (und zahlten viel zu viel Geld dafür).
Wir hatten uns in der International Lounge kennen gelernt, in der ich einen Großteil meiner Zeit verbringe und durch mein Aussehen immer wieder neugierige Blicke auf mich ziehe. Er war einer der ersten Personen, die mich richtig kennen lernen wollten. Andere Menschen wollen mich durchaus auch anschauen, anfassen und ausfragen, aber er wollte sich mit mir unterhalten. Also redeten wir. Und dieses Gespräch war das Erfrischendste, das mir seit einigen Wochen passiert ist.
Die erste Frage, die der junge Mann mir stellte, war, was mein Traum sei, mein Ziel, meine Passion. Ich sprach über Europa, über Werte, über Veränderung. Er nickte verstehend. Sein Wunsch dahingegen sei, das japanische Bildungssystem zu verändern. Er wolle Lehrer oder Professor werden. Junge Erwachsene in Japan, so er, würden nicht zum Denken erzogen, sondern zum Nachplappern. Genau diesen Eindruck hatte ich über die Wochen auch gewonnen. Nun will ich wahrlich kein Lobeslied auf das deutsche Schulsystem anstimmen, immerhin hat sich nicht viel getan, seit ich protestierend auf die Straße gegangen bin und viel ist mir (Stichwort Bulimielernen) nicht im Gedächtnis geblieben, aber die Tatsache, dass oftmals kein Raum für Persönlichkeitsentwicklung bleibt, liegt meiner Lehrerkindmeinung nach mehr an inkompetenten Lehrkräften, als an den Auflagen des Kultusministeriums.
Ich wagte mich an eine kritische Frage: „Japanische Jugendliche werden nicht besonders zu einer eigenen Meinung erzogen, oder?“
Er nickte. „Von uns wird erwartet, das Richtige zu sagen – oder gar nichts. Also sagen wir lieber gar nichts.“
Japaner sind unglaublich besorgt, sich mit einer Aussage einen Faux Pax zu leisten oder den Gegenüber zu verletzen, zu verärgern oder irgendwie zu verstören.
„In Japan gibt es so viele Regeln zum richtigen Verhalten, man kann sie nur brechen“, sagte er weiter. „Wenn man immerzu darauf bedacht ist, höflich zu bleiben, kann man nicht auch noch über andere Dinge nachdenken.“ Ich musste etwas lachen, denn mit diesen ganzen Höflichkeiten schlage ich mich tagtäglich herum. Er runzelte die Stirn. „Du lachst, bei dir sehen sie ja, dass du es nicht besser weißt, wenn du einen Fehler machst.“ Dann begann er, leicht zu brechenden Regeln aufzulisten: Anordnung von Reis- und Suppenschüsseln, Ablage der Stäbchen, Tiefe der Verbeugung – um gar nicht erst davon anzufangen, was passieren kann, sobald man den Mund aufmacht.
Wir unterhielten und über vieles an diesem Abend, doch eine Sache lag mir noch besonders auf dem Herzen: wie anstrengend es für mich ist, dass ich immerzu raten muss, was mein Gegenüber möchte oder wie er sich fühlt, da niemals mit der Wahrheit rausgerückt wird.
„Wir Japaner reden schon über unsere Gefühle. Wir haben nur eine klare Grenze zwischen dem Innen und dem Außen und die Grenze ist schwer zu durchbrechen. Der Kreis unserer Vertrauten, das Innen, ist sehr klein.“ Das macht es meiner Meinung nach nicht gerade leichter – vor einfach nicht für die Person, die eine Emotion unterdrückt. Immerhin besteht gerade mein engster Kreis doch aus den wenigen Personen, die erraten können, wie es mir geht, ohne dass ich etwas darüber sagen muss.
Er dachte eine Weile nach, dann nickte er. „Du hast recht. Es sollte nicht so kompliziert sein müssen. Wir müssten Zeit haben, über wichtige Dinge nachzudenken. Und um ehrlich zu sein – ich habe vorhin auch gelogen. Ich habe gesagt, es gehe mir richtig gut. Aber das ist nicht wahr. Ich bin müde und etwas krank, meine Uni ist stressig und ich muss einen Bericht fertig schreiben.“ Er lächelte. „Wow, das hat sich gut angefühlt.“
Dann prostete er mir zu. „Aber egal, wie kaputt ich bin – ich bin froh hier mit Dir zu sein. Ich sollte mein Austauschjahr in Deutschland machen. Ich kann ja nie ändern, was ich ändern möchte, wenn ich nicht weiß, wie es anders gehen kann.“
Februar 2014