Als ich einer Freundin neulich erzählte, ich müsse mal wieder über europäische Identität und meine Identifikation mit Europa schreiben, reagierte sie überrascht: „Bei allem Respekt, Marie – schon wieder? Ist da nicht schon alles gesagt?“ Natürlich nicht.
Ich lebe seit einigen Wochen in Asien und habe mich langsam daran gewöhnt, dass alles ganz und gar anders funktioniert, wahrgenommen wird und ist als in Europa.
Ich wundere mich nicht mehr über starrende Kinder, bei denen ich mir nie sicher sein kann, ob sie versuchen, mit mir zu schäkern oder ob sie sich vor mir fürchten, doch denen die Faszination über das Fremde, das Exotische in die kleinen Gesichter mit den großen Augen, die den Blick nicht von mir lassen können, geschrieben steht. Ebenso wenig erstaune ich über Fremde, die mich anstrahlen als sei ich ein Shooting Star., mir enthusiastisch winken und Fotos vor malerischer Kulisse mit mir machen wollen, wenngleich ich alles andere als eine landestypische Attraktion bin
In Taiwan habe ich – anders als in Japan – auch nach kurzem Aufenthalt durchaus schon das Gefühl, wenigstens ein bisschen integriert zu sein; ich fühle mich willkommen, pflege frische, aber dennoch wertvolle Freundschaften und werde von dem Portier unten bei meiner Wohnung immer freundlich und keineswegs skeptisch begrüßt.
Aber ganz unabhängig davon, wie sehr ich das Land und die Leute liebe und mich hier zu Hause fühle – ich habe mich nie europäischer gefühlt als hier.
Nun habe ich mich, seit ich begann mich mit der vielschichtigen Frage der Identität auseinander zu setzen, immer schon europäisch gefühlt und nicht etwa deutsch, doch meine Erfahrungen in Asien haben dieses bisher vage Gefühl in eine ganz andere Dimension gehoben.
Um ehrlich zu sein, hatte ich direkt nach meiner Ankunft erwartet, dass ich mich durch diesen Aufenthalt in der fernen Fremde plötzlich als Deutsche oder – ganz im Gegensatz dazu – als Weltbürgerin fühlen würde. Nein, (ich) mein Gefühl als Europäerin wurde gefestigt. Durch und durch.
Ich dachte, ein deutsches Nationalgefühl, ja womöglich sogar etwas so absurdes wie Nationalstolz, würde in mir geweckt werden, da die Erwähnung meiner Nationalität zum ersten Mal in meiner Erinnerung nichts als Begeisterung auslöste. Ich stimme natürlich zu, dass Deutschland ein schönes und interessantes Land mit klasse Autos, super Ingenieurwesen und lecker Bratwurst ist; nur habe ich nicht das Gefühl, dass allein dies meine „Identität“ ausmachte. Ich arbeite durchaus hart, strukturiert und effizient, immer so, dass genug Zeit für Pausen und zum Genießen bleibt, und all das ist, wie mir erklärt wurde, der Inbegriff deutscher Arbeitsmoral. Ich entspreche also dem deutschen Stereotyp. Damit kann ich leben, denn es hindert mich ja nicht daran, zu denken und zu fühlen, wonach mir der Sinn steht.
Also zu meiner zweiten Vermutung, die beinhaltete, dass mir der enge Kontakt mit der ostasiatischen Kultur das Gefühl vermitteln würde, ich sei einfach nur ein Mensch unter vielen auf diesem Globus und überall beheimatet wo der Wind mich hintrage hinträgt und man mich mit offenen Armen empfängt.
Ich fühle mich wohl, kann mir vorstellen, hier zu leben, gern auch für lange Zeit, ich übernehme mit Vergnügen einige Traditionen und Gewohnheiten und trinke seit Wochen nur noch Tee, aber tief in meinem Herzen fühle ich mich Europa in seiner vielfältigen Gesamtheit auf diffuse und wenig rationale Art und Weise zugehörig.
Vielleicht, weil das Leben in Europa und alles was damit zusammenhängt in so starkem Kontrast zu meiner Lebenswelt hier steht; vielleicht, weil das mein Weg ist, über die Kultur, in der ich lebe, nachzudenken und zu urteilen oder vielleicht einfach deshalb, weil Europa mir plötzlich so klein, kompakt und überschaubar vorkommt, dass es – da die Welt so groß, aber Deutschland irgendwo doch begrenzt ist – genau die richtige Größe hat, um mich zugehörig und dennoch frei zu fühlen.
Ich blicke seit Wochen auf Weltkarten mit Japan oder China im Mittelpunkt, mit Russland direkt darüber und rundherum (,und) auf denen Europa nichts als eine Ansammlung zerfledderter Flecken am Rand ist, ein bunter Flickenteppich sozusagen, bestehend aus lauter kleinen Stoffstücken, die ziemlich lose zusammengehalten werden und gerade so standhalten, weil sie nicht zu sehr strapaziert werden.
Ich habe fast 21 Jahre meines Lebens Karten ausschließlich mit Europa in der Mitte betrachtet und die wilde Ansammlung von Staaten kam mir immer ganz passabel vor. Faszinierend, wie schon eine kleine Veränderung des Blickwinkels mein ganzes Weltbild auf den Kopf stellen kann.
Nun bin ich aber nicht die einzige, die – neben wahrscheinlich dem Großteil der europäischen Bevölkerung – Europa eindeutig überschätzt.
Neulich bin ich einer Gruppe indonesischer Studierender begegnet, die überwältigt waren, ausgerechnet in Japan eine Deutsche vor sich zu haben. „Wow Europa, der beste Kontinent, da will ich unbedingt hin!“ Das kann man durchaus durchgehen lassen. „WOW! Deutschland? So ein wichtiges Land, so ein großes Land. So groß wie China?“
Es ist schmeichelhaft, dass einem einzelnen Land in Europa solche Größe zugetraut wird, aber mir zeigte es vor allem, wie verkehrt Europa eingeschätzt wird. Die Europäische Union ist Menschen, denen ich hier begegne, durchaus präsent, ein Begriff, der für Entwicklung und Macht steht – und das wird mit Größe gleichgesetzt. Im Grunde machen wir in Europa nichts anderes.
Jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union scheint – zumindest in erschreckend großen Teilen – davon überzeugt zu sein, der schönste Hahn im Korb zu sein – ohne zu merken, dass langsam ein Kontinent mit einzelnen Ländern größer als die ganze EU zusammen im Kommen ist. Woran das liegt? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass all diese plötzliche Wahrnehmungsänderung mir mehr als deutlich gezeigt hat, dass Europa langfristig nur eine Chance hat, wenn es zusammenwächst. Ich sehe in Europa nach wie vor ein großes Potential. Trotz diverser Krisen, trotz des gefährlich brodelnden Konflikts an der Ostgrenze. Doch ich habe das nie enden wollende Gerede auf institutioneller Ebene, die demokratisch gerade eben so legitim ist, das sich irgendwann immer im nationalen Kleinklein verliert, satt.
Europa, stellvertretend für die EU, ist ein Kontinent mit großartigen Zielen, Werten und Grundlagen und all das geht in sinnlosen Machtkämpfen um nationale Souveränität verloren.
Ich werde nun eine waghalsige These aufstellen, die womöglich nicht viel Zustimmung erntet: Nachdem ich zunächst in Europa über die Europäische Union gelernt habe und meine Sichtweise nun durch eine Außen-Perspektive bereichern konnte, stelle ich fest, dass die einzelnen europäischen Länder sich vor allem durch Sprache, und die dort lebenden Menschen sich hauptsächlich durch ihr Temperament unterscheiden und sonst durch nicht viel mehr, und auf jeden Fall durch nichts, was schwerwiegend ein Zusammenwachsen beeinträchtigen könnte.
Das größte Problem liegt darin, dass die einzelnen Länder wie kleine Kinder damit beschäftigt sind, zu beweisen, dass sie viel individueller, toller und eigener sind als alle anderen. Das wird mit Geschichte und jahrhundertealten Traditionen belegt. Die Geschichte und die Traditionen der Länder mögen älter als die Länder selbst sein, aber das geht in dem Hahnenkampf unter und alles was bleibt, sind frustrierte Bürgerinnen und Bürger, die sich die guten alten Zeiten der Nationalstaatlichkeit zurück wünschen.
Es geht mir hierbei auf keinen Fall um Gleichmacherei, sondern darum, innerhalb Europas Blickwinkel und Herangehensweisen zu ändern und nach Ähnlichkeiten zu suchen, anstatt auf Differenzen zu beharren. Ich habe lange genug in Polen gelebt, um verstehen zu können, dass dort die eigene, noch junge Unabhängigkeit hoch geschätzt wird; aber ich lebe hier in Asien auf einer Insel, die unter Chinesischer Flagge liegt und sich nichts weiter wünscht, als das zu ändern, blicke auf den europäischen Flickenteppich auf der Karte und komme nicht darum herum zu denken, dass er entweder flott geflickt und gestärkt werden muss, um noch Jahre zu halten – oder immer mehr verschleißen wird. Und dann in einigen Jahren kommt man in den großen Bauten der EU plötzlich auf die Idee, dass mal eine Schneiderin ran müsste, nur um zu merken, dass die losen Fäden nicht mehr zu retten sind.
Ich habe von der asiatischen Kultur in kurzer Zeit viel lernen können – und lerne noch immer weiter – aber ich identifiziere mich vor allem mit den Werten Europas, mit denen ich groß geworden bin und ich weiß unsere politische und demokratische Stabilität sehr zu schätzen. Ich sehe aber auch viele Baustellen und weiß, dass sie nur gemeinsam beackert werden können.
Herausforderungen haben mich schon immer bestärkt und die jetzige ist die Identität. Die Ereignisse der letzten Wochen haben meinen Kampfgeist wieder belebt.
Ich liebe es, hier in Asien zu sein, aber mir brennt es unter den Fingern, zurück nach Europa zu kommen, um wieder mitzumischen und meinem Europa bei dem so dringlich benötigten Fortschritt helfen zu können, und sei es durch noch so kleine Taten.
Alle suchen derzeit nach der Lösung für das Chaos, aber im Grunde ist es doch ganz einfach: Die potenzielle europäische Gemeinschaft wird gestärkt, sie entwickelt Teamgeist, das löst Probleme viel schneller und unkomplizierter, das wiederum pusht die Gemeinschaft, die vom Erfolg bestärkt weitere Projekte in Angriff nimmt und so weiter und so fort, in einer wunderschönen produktiven, nachhaltigen Endlosschleife.
März 2014
[…] colourful and also like a very wild raggle-taggle. I wrote about that new perspective in German (Über Hahnenkämpfe und den Europäischen Flickenteppich) and discussed my impression with my […]
[…] colourful and also like a very wild raggle-taggle. I wrote about that new perspective in German (Über Hahnenkämpfe und den Europäischen Flickenteppich) and discussed my impression with my […]