Die taiwanesische Art des Protests für Demokratie, Mitbestimmung und Unabhängigkeit
Am Dienstag, den 18. März 2014, besetzten mehrere Hundert taiwanesische Studierende den legislativen Yuan, das Parlamentsgebäude, in der Landeshauptstadt Taipeh. Auslöser hierfür war ein seit einigen Monaten geplantes Handelsabkommen mit China, das es Investoren beider Länder erleichtern soll, im anderen Land in verschiedene Arbeitsbereiche einzusteigen.
Das Abkommen ist in Taiwan stark umstritten, Kritiker fürchten eine Überdominanz Chinas und einen Untergang taiwanesischer Unternehmen. Andere sehen in einer globalisierten Welt ohne enge Bindung an China für Taiwan – eine kleine Insel irgendwo in Ostasien – keinerlei Chancen. Und wieder andere wünschen sich durchaus starke Handelsbeziehungen mit China, ohne jedoch Republic of China in ihren Pässen stehen zu haben und mit dem Wissen, als eigenständige Nation und nicht als eine abseits liegende Provinz anerkannt zu werden. Letzteres scheint denen, die ihre Meinung mit mir teilen, eine Utopie zu sein. Wo ich auch frage, ist die Angst, ein „zweites Hong Kong“, sprich fremdbestimmt an China angegliedert zu werden, groß. Soweit soll es nicht kommen.
Der eigentliche Grund, weshalb aber ausgerechnet diesen Dienstag Studierende entschieden, es sei genug und sich im Yuan verbarrikadierten, liegt darin, wie dieses Abkommen von der Regierung, in der die KMT-Partei (Kuomintang) über eine absolute Mehrheit verfügt, in den letzten Monaten behandelt wurde. Dem legislativen Prozess mangelt es an Transparenz. Es wurde nicht dem taiwanesischen Recht entsprechend, sondern unter der Hand, hinter verschlossenen Türen und ohne die notwendige Verhandlungszeit abgehandelt. Dieses Abkommen hätte heute verabschiedet werden sollen.
Die Taiwanesen fühlen sich übergangen, fürchten um ihre Demokratie und ihre Unabhängigkeit – und gehen auf die Barrikaden, wovon die Besetzung des Yuan nur der Anfang war. Heute, vier Tage später, ist der Protest zu einem Selbstläufer geworden, der immer mehr Menschen, vor allem Studierende, aus ganz Taiwan anzieht.
Und das, dachte ich mir, lasse ich mir nicht entgehen.
Ich hatte von taiwanesischen Zeitungen verschiedene Bilder vermittelt bekommen, einige sprachen von einer friedlichen Revolution, andere von gewaltvoller Revolte einiger Störenfriede (letzteres ist die vorherrschende Meinung taiwanesischer Medien, die oft in direkter Nähe zu der pro-chinesischen Regierung stehen).
Überwältigende Größe, überwältigende Organisation
Als ich am Ort des Protests ankomme, bin ich beeindruckt. Ich muss mich durch einige „Randdemonstrationen“ kämpfen, in denen für und gegen alles mögliche Banner und Reden geschwungen werden, ehe ich die Straße erreiche, die auf den Yuan zuläuft. So weit das Auge blickt, haben überwiegend junge Menschen die Straße besetzt und lauschen Lautsprecherstimmen. Die Atmosphäre ist stark und gewaltig – doch bedrohlich nur für diejenigen, gegen die sich der Protest richtet.
Ich, durchaus im Demonstrieren bewandert, habe etwas wie diesen Protest noch nicht erlebt. Gemessen an der Zahl der Menschen ist es unglaublich still, nur die Stimmen der Redenden hallen über die Köpfe. Es ist auch unglaublich strukturiert, es herrscht weder Unruhe noch Hektik. Diejenigen, die versuchen, von einem Ort an den anderen zu gelangen, folgen ordentlich einer nach dem anderen den vorgegebenen Richtungen (selbst wenn den Weg so gelegt ist, dass es durchaus zwanzig Minuten dauert, von einer Straßenseite auf die andere zu kommen), niemand vergisst nachlässig seinen Müll, vor den Dixie-Klos reihen sich die Wartenden geduldig in Schlangen und um den grauen Tag zu verschönern – und auch weil es die Blume dieser Proteste ist – leuchten hier und da Sonnenblumen an improvisierten Wegweisern.
Ich wünschte, ich hätte verstehen können, was aus den Lautsprechern kam, doch so war ich auf Übersetzungen angewiesen. Einerseits sprachen die, die den Protest auf die Beine gestellt und über das Internet publik gemacht haben. Sie riefen Parolen für Unabhängigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie, dankten für die Unterstützung und forderten dazu auf, nicht aufzugeben.
Andererseits klärten Lehrende der Universtäten darüber auf, worum es eigentlich geht, sprachen über Recht und Unrecht und riefen die taiwanesische Geschichte in das kollektive Gedächtnis.
„Ich bin hier, weil ich etwas von einem Professor gelesen habe“, erzählt eine Studentin. „Er schrieb, dass wir hier lernen können, wie Demokratie funktioniert und dass wir für unsere Rechte einstehen müssen. Also bin ich hergekommen.“
Was ihre Meinung zu dem Abkommen sei, frage ich. Sie zuckt mit den Schultern. „Das Problem ist, dass die meisten von uns Taiwanesen gar nicht wissen, dass es dieses Abkommen geben soll. Und die, die es wissen, haben keine Ahnung, worum es geht. Deswegen erzählt man es uns jetzt.“
Sie ist bei weitem nicht die Einzige, die so denkt. Die spürt, dass es richtig ist, hier zu sein, aber die sich noch keine eigene Meinung bilden möchte.
Mich interessiert, wie es sich denn anfühlt, dabei zu sein. „Großartig!“, strahlt ein Student, der Flugblätter verteilt. „Was unsere Regierung tut, ist illegal und undemokratisch und wir sind hier und erheben unsere Stimmen für unser Land, alle gemeinsam. Ich habe das Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein.“
Eine Kommilitonin pflichtet ihm bei. „Es geht hier bei Weitem nicht nur um das Abkommen. Es geht um das große Ganze und wir werden nicht zulassen, dass wir chinesisch werden. Dafür werden wir kämpfen.“
Ob sie glaubt, dass die Protestierenden Erfolg haben werden? Sie nickt selbstbewusst. „Ja. Wir sind viele und wir geben nicht auf.“
Der Protest in einer Reihe von Kämpfen für die Unabhängigkeit
Der Protest der letzten Tage, der mit dem Namen „Sonnenblumenrevolution“ getauft wurde, ist nicht der erste Massenprotest in Taiwan, aber der erste Studierendenaufstand dieser Größe und Gewaltigkeit, insbesondere die Stürmung des Yuan ist beispiellos. In den 90ern setzten sich vor allem die damaligen Studierenden, von denen heute viele führende Positionen in der Oppositionspartei belegen, erfolgreich für eine Demokratisierung und die Unabhängigkeit ihres Landes ein. Taiwan blieb zwar auf dem Papier ein Teil Chinas, doch wurde politisch und wirtschaftlich weitestgehend eigenständig und hatte vor allem 1996 zum ersten Mal nach erst japanischer und dann chinesischer Besatzungszeit freie Wahlen.
„Es ist gut zu sehen, dass Protestieren sich lohnt“, meint ein Student. „Außerdem haben wir die Opposition auf unserer Seite und sicher nicht nur, weil sie sich erhoffen, so beim nächsten Mal mehr Stimmen zu bekommen.“ Er lacht. Dann überlegt er. „Das heißt aber nicht, dass die Generation von damals uns besonders unterstützt. Meine Eltern finden es gar nicht gut, dass ich hier bin.“ Er ist nicht der einzige, der mir das erzählt. „Sie haben noch zu viel Angst davor, ihre Meinung zu sagen, das war zu gefährlich, als sie jung waren. Außerdem sind sie wohl indoktriniert und können nicht selbstbewusst Anti-China sein.“
Als nächstes unterhalte ich mich mit einem jungen Pärchen, das neugierig fragt, woher ich komme und weshalb ich hier bin. Wir sprechen kurz über dieses und jenes und unsere jeweiligen Studien. Sie beide studieren die Geschichte Taiwans, ein Fach, das es noch nicht lange gibt. „Taiwan hat eine junge und deshalb verletzliche Demokratie, denn wir sind noch nicht lange unabhängig. Die Gefahr ist groß, dass wir wieder zurück fallen“, erklären sie. „Das Abkommen an sich ist nicht falsch, ohne Handelsbeziehungen kann kein Land überleben, aber es muss fair sein.“ Und die Fairness, das veranschaulicht mir ein bunter Flyer, ist nicht gegeben. Erstens, weil es unter gegebenen Umständen für chinesische Unternehmen viel einfacher gemacht wird, sich in Taiwan niederzulassen als andersherum und zweitens, weil China durch seine überlegene Größe einen eindeutigen Vorteil hat. So wie das Abkommen ausgearbeitet wird, sei die Gefahr groß, dass vor allem TaiwansDienstleistungssektor von chinesischen Unternehmen überrannt würde, ohne dass sich taiwanesische Unternehmen in gleichem Umfang in China ansiedeln könnten.
„Das Abkommen wie es ist führt dazu, dass China über kurz oder lang immer mehr Einfluss in Taiwan bekommt, bis wir weder theoretisch noch praktisch unabhängig sind.“
Doch sie stimmen darüber ein, dass es dazu nicht kommen muss – wenn die jungen Erwachsenen nur mit genug Ausdauer an der Sache dran bleiben. Friedlich, optimistisch und alle miteinander.
Die Kraft des Gemeinschaftssinns
Der vereinende Gedanke, der kraftvoll über den Massen in den Straßen rund um das besetzte Gebäude schwebt, ist es, der die Stimmung während des Protests so besonders macht. Selbst ich, die mich mit Taiwan nicht mehr verbindet als die Liebe auf den ersten Blick, fühle mich willkommen.
Viele der Protestierenden haben womöglich kein Interesse an Politik und keine Ahnung von den Vereinbarungen, aber sie eint der Wunsch danach, von der Weltgemeinschaft als eigenständiges Land wahrgenommen zu werden. Außerdem gehört es in den letzten Tagen einfach dazu, zum Legislativen Yuan zu gehen und mit denen auszuharren, die in schlecht belüfteten Räumen mit der Polizei vor den verbarrikadierten Türen standhalten. Solidarität wird hoch geschätzt, denn nur so kann eindrucksvoll gezeigt werden, dass die Taiwanesen als Volk eine Stimme haben und bereit sind, diese zu erheben, wenn sie sonst nicht beachtet wird.
Ob mit oder ohne eigene Meinung – es gehört zum guten Ton, dabei zu sein und für die eigenen Rechte, demokratische Werte und das Land einzustehen. Doch das heißt nicht, dass der Großteil nur als Protesttouristen aufläuft. Nicht nur die Studierenden im Gebäude wissen ganz genau, wofür sie stehen, auch auf den Straßen treffe ich viele junge Menschen, die seit Tagen nicht weiter als bis zum nächsten Klo gegangen sind und voller Überzeugung ihre Plakate in die Luft halten.
„Wir sind hier und wir kämpfen. Und wir sorgen dafür, dass alle wissen, was wir wollen und sich eine Meinung bilden können. Aber vor allem werden wir uns nicht von den lügenverbreitenden Medien provozieren lassen. Wir bleiben friedlich!“, erklärt ein Student energisch.
„Es wurde Zeit, dass was passiert. Gut, dass protestieren so schnell zum Trend wird“, freut sich eine Studentin und fügt grimmig hinzu: „Our government sucks, und das wissen wir alle. Die kümmern sich nicht um das, was wir wollen.“ „Und vor allem kommunizieren sie nicht mit dem Volk“, pflichtet ihr eine Freundin bei. „Also zwingen wir sie jetzt dazu.“ Bisher habe sich der Präsident weder geäußert noch gezeigt – und auch nicht auf das Ultimatum der Protestierenden heute um 6 Uhr Ortszeit reagiert – aber „der kann sich nicht ewig verstecken. Und wir sind hier noch lange nicht fertig.“
Mit vereinten Kräften stellen die Taiwanesen sicher, dass der Protest weder aufhört noch eskaliert, ehe das vorrangige Ziel – eine legale Behandlung des Handelsabkommens – erreicht ist.
Doch Unterstützung kommt nicht nur von denen, die ihre Zeit lauschend auf dem Asphalt verbringen, bei Regen, Wind, Erdbeben und tags wie nachts.
Unterstützung kommt auch von Menschen, die Essen, Trinken, Decken, Erste-Hilfe-Kästen und Müllsäcke spenden. Sie kommt von Juristen und Medizinern, die ihre Dienste zur Verfügung stellen. Und vor allem kommt sie von einem ständig wachsendem Netzwerk Tausender Freiwilliger, die überall positioniert dafür sorgen, dass kein Chaos ausbricht, die Essen, Wärmekissen und Flyer verteilen und die Müll einsammeln und versorgen.
„Ohne Freiwillige würde hier nichts laufen“
Mein Weg brachte mich heute neben vielem anderen auch zur Müllrecyclingstelle, in der eine Gruppe junger Frauen und Männer in Müllsäcken wühlte und den Inhalt nach Papier, Plastik und was es sonst noch zu recyceln gibt, sortierte.
„Warum bist du hier?“, frage ich eine junge Frau, die sich mit einem Tee eine kleine Pause gönnte.
„Ich habe das Gefühl, es ist wichtig, dass wir zeigen, wofür wir stehen und dass wir uns nicht gefallen lassen, was uns nicht gefällt. Sonst ändert sich nie etwas. Wenn wir nicht kämpfen, dürfen wir uns am Ende nicht beschweren.“
Ich deute auf den Müll. „Und warum hilfst du hier?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Ich möchte meinen Leuten und meinem Land helfen. Ohne Freiwillige würde hier nichts laufen.“
Die Organisatoren des Protests hätten seit Beginn über die sozialen Medien und die App „Line“ (vergleichbar mit Viber/Whattsapp) um Unterstützung gebeten, also sei sie aus ihrer Stadt hergefahren. Seit Mittwoch ist sie hier, sortiert Müll, hört Reden und ruft Parolen.
Sie zeigt auf Kartonstücke, die überall aufgehängt sind und auf die mit Filzstift Schriftzeichen gekritzelt sind. „Wir brauchen jede Unterstützung.“
„Das heißt, ich könnte auch helfen?“, frage ich.
Sie grinst und reicht mir Plastikhandschuhe. „Unsere Taschen sind da drüben in der Ecke.“ Ich werde vom Team lächelnd begrüßt und in die Feinheiten taiwanesischer Mülltrennung eingewiesen.
Freiwillige kommen und gehen, bleiben mal den ganzen Nachmittag oder mal nur eine Stunde. Wir reden darüber wie viel Spaß das Rebellieren macht, wenn es für eine richtig gute Sache ist und darüber, wie wichtig demokratische Werte sind. Zwischendurch essen wir, was uns gebracht wird, bis über uns und den anderen, die stillvergnügt und geduldig herumsitzen und nur aufstehen, wenn sie dazu aufgefordert werden alle gemeinsam ihr Blut in Bewegung zu bringen, die Sonne untergeht. Ich verabschiede mich als der Himmel schon lange schwarz ist und es schwer wird, den Müll auseinanderzuhalten.
Begleitet von taiwanesischen Friedensgesängen gehe ich, todmüde, mit einem steifen Rücken, aber voller Kampfgeist in ordentlichen Reihen zur Metro. Ich möchte genug Schlaf bekommen, denn morgen geht es weiter.