Am sechsten Tag der Sonnenblumenrevolution zeigt sich endlich die Sonne über Taipeh. Der Protest zieht immer mehr Journalisten, immer mehr Schaulustige – und immer mehr Protestierende an. Es sind nach wie vor überwiegend junge Menschen, Schüler*innen, Studierende, Eltern mit Kleinkindern. Sie sitzen in Gruppen auf dem Boden, mit Sonnenblumen in den Händen und Spruchbändern um die Stirn und hören zu, was aus den Lautsprechern kommt. Einige schreiben an ihren eigenen Reden, um zum Podium zu gehen, wenn die Rednerliste bei ihnen angelangt ist. Freiwillige eilen herum, versorgen große Pakete, die ihnen gebracht werden und kümmern sich darum, dass die Proteste so friedlich und strukturiert bleiben, wie sie sind.
Straßenkünstler fangen die Szene mit Buntstiften ein, andere malen Parolen auf buntes Papier und reichen es denen, die vorbei kommen. Die Situation ist noch immer friedlich und ruhig, doch die Stimmung ist eindeutig politisiert. Wo auch immer ich frage, bekomme emotional teils stark aufgeladenen Antworten.
„Wir alle wissen inzwischen, worum es in dem Abkommen mit China geht“, erklärt ein Student, der seit Mittwochmorgen vor dem Parlament steht und für Ordnung sorgt. „Und es gibt verschiedene Meinungen. Einige sind für das Abkommen und andere dagegen. Einige denken, das Abkommen an sich ist nicht verkehrt, aber kritisieren die fehlende Transparenz und die mangelnde Rechtsgrundlage des Prozesses.“ Ich frage ihn nach seiner persönlichen Meinung. „Meine Meinung?“ Er lacht. „Ich meine – wir reden hier von China. Das ist nicht irgendein Land und deshalb müssen wir als Bürger von Taiwan besonders vorsichtig sein. Ich unterstütze nichts, bei dem China seine Hände drin hat, von dem ich nicht ganz genau weiß, worum es geht.“
Die Regierung, das sei das größte Problem, habe dem Volk bisher nichts über das Abkommen erzählt und antworte nach wie vor nicht auf die Fragen der Protestierenden.
„Unsere Regierung repräsentiert nicht das Volk“, meint ein älterer Arzt, der seit einigen Tagen vor dem Parlament sitzt. „Unser Präsident ist in China geboren, seine Seele ist Chinesisch. Hier kämpfen Taiwanesen für Taiwan.“ Er zeigt auf die jungen Menschen um ihn herum. „Diese Menschen sind in einer neuen Zeit aufgewachsen, sie haben keine Verbindung zu China. Und es geht hier um ihre Zukunft.“
Ich komme mit einer Gruppe von Studentinnen ins Gespräch, die Care-Pakete für die Protestierenden im Parlament füllen. Sie geben ihre Meinung zunächst nur zögerlich preis, denn wollen nichts Falsches sagen, doch bei der Frage, ob sie sich vor etwas fürchteten, sprudelt eine junge Frau voller Energie los. „Natürlich haben wir Angst, immerhin ist es unsere Zukunft, um die es hier geht. Die Wirtschaft in Taiwan ist schwach und wir haben viele Probleme. Unsere Löhne sinken und gleichzeitig steigen die Kosten für alles. Aber es ist keine Lösung, dass wir dann auch noch Chinesischen Unternehmen die Möglichkeit geben, sich hier anzusiedeln und die wenigen Arbeitsplätze die wir haben, zu nehmen. Daran merkt man, dass unsere Regierung sich nicht für das interessiert, was wir brauchen.“ Sie sei voller Zuversicht, dass sich etwas verändern würde, denn sie spüre die gewaltige Kraft, die von den Protestierenden ausginge. Ein junger Mann, der hinzugekommen ist, vergleicht Taiwan und Europa. „In Europa gehen die Menschen auf die Straße und zünden Autos an, aber so etwas passt nicht zu uns. Solange wir friedlich bleiben, sind wir im Recht.“ Ich deute auf sein Sweatshirt, auf dem „Fuck the Government“ steht. Er grinst verlegen. „Ist doch wahr.“
Einer jungen Frau, die die Rednerlisten koordiniert, ist es wichtig, zu betonen, dass es ihr nicht darum ginge, die Regierung abzusägen. Sie wolle nur das Gefühl haben, ernstgenommen zu werden. „Es ist mein Land und ich möchte in diesem Land leben, weil es mir gefällt. Also möchte ich auch das Gefühl haben, mein Land hat Interesse an meiner Meinung.“
„Wir nennen das hier Revolution“, sagt ein Schüler selbstbewusst, „denn so fühlt es sich an. Wir wollen unsere eigene Zukunft in die Hand nehmen. Wir lassen uns nicht einfach abspeisen. Wir mischen mit!“
Auf den Straßen vor dem Parlament treffe ich auf Kampfgeist, auf Motivation, auf Entschlossenheit, hier zu bleiben, bis sich etwas verändert hat, solange es auch dauern mag.
Dennoch begegne ich auch immer wieder jungen Frauen und Männern, die eine gewisse Furcht nicht verbergen können. „Wir sind Taiwan“, sagt eine Schülerin. „Und versuchen, uns gegen China zu behaupten. Es ist toll zu sehen, wie wir alle zusammen halten, aber wir brauchen aus Unterstützung aus anderen Ländern. Ich glaube nicht, dass wir es alleine schaffen können.“
„Wir sind noch nicht am Ende“
Mit Hilfe einer übernächtigten jungen Frau, die seit zwei Nächten nicht geschlafen hat, komme ich schließlich in Nähe des Parlaments, wo auf dem Innenhof seit Dienstagnacht Protestierende die Polizisten einkesseln, die die Besetzer*innen im Parlament einkesseln.
Unter einem Pavillon herrscht reges Treiben, im Parlament fallen vor allem junge Frauen immer wieder in Ohnmacht, und hier stellen Medizinstudierende und Ärzt*innen ihre Dienste zur Verfügung. Auf dem Dach des Parlamentsgebäudes laufen drei junge Männer auf und ab und beobachten die Menschenmassen unter ihnen, von Zeit zu Zeit lassen sie eine Leiter runter, um Protestierenden von den Straßen in den zweiten und den dritten Stock des Gebäudes zu helfen, darauf bedacht, dass nicht jeder Zutritt bekommt.
„Es ist cool, im Parlament zu sein“, wird mir von einem erzählt, der kontrolliert, wer rein und raus geht. „Viele hoffen, berühmt zu werden, weil sie dabei waren. Das macht es für uns etwas schwierig, alles zu koordinieren.“
Auf dem Dach des Gebäudes zeigt sich eine junge Frau. Sie kommentiert eine Pressekonferenz des Präsidenten am Morgen, bei der er über vieles geredet hat – ohne dabei Bezug auf den Protest zu nehmen. Sie fordert dazu auf, nicht aufzugeben. Unter ihr hallen Rufe. „Wir geben nicht auf.“
„Wir werden das Parlament verlassen, wenn wir hier zu Ende sind“, ruft sie. „Aber wir sind noch nicht am Ende.“
Ein Student, der seit Mittwoch in die Organisation eingebunden ist, nimmt sich Zeit um mit mir über alles zu sprechen. Er studiert Mechanical Engineering und lächelt beinahe schuldbewusst. „Das hat nichts mit Politik zu tun, aber das heißt nicht, dass ich mich nicht für Politik interessiere. Hier geht es um meine Rechte und ich bin hier, um etwas zu verändern.“ Wie so viele Bekanntschaften der letzten Tage ist er dankbar, dass ich als Deutsche Interesse an dem Protest zeige. „Ich habe Angst“, gibt er zu, „dass unsere Regierung uns ausbluten lässt, denn genau das ist, was sie gerade macht. Wir werden einfach ignoriert. Noch sind die Menschen voller Energie, aber ich fürchte, dass sie bald die Motivation verlieren.“
Plötzlich bricht Chaos aus, einige junge Männer und Frauen schreien, im Chor brüllt die Gruppe vor dem Parlament „Weg mit der Polizei“. Leute schubsen und rangeln, Reporter stürzen sich mit ihren Kameras in den Tumult und für einen kurzen Moment droht die Situation zu eskalieren. Ein Team junger Männer hat sich ineinander gehakt und steht vor den Polizisten im Gebäude, um nach vorn drängende Protestierende daran zu hindern, in das Parlament zu gelangen. Sie bitten die Gruppe (die wohl zu 70 Prozent aus neugierigen Reportern besteht) mit lauten Stimmen um Ruhe, ihnen steht Schweiß auf der Stirn und in ihren Augen lauern einige Funken von Furcht. Nach einigen Minuten zeigen sich zwei junge Männer, deren Gesichter für die Revolutionsführer stehen und heben beschwichtigend die Hände. „Wir werden nichts erreichen, wenn wir gewaltvoll werden.“
„Wir werden nichts erreichen, wenn wir hier nur rumsitzen und nichts tun“, schreit eine junge Frau aufgebracht. Sie wird von Umstehenden zur Ruhe gebeten.
„Die Besetzung des Parlaments ist nur die eine Seite des Protests“, erklärt einer der jungen Männer mit ruhiger Stimme. „Wir brauchen die vereinte Kraft von allen auf den Straßen, um uns zu schützen und zu zeigen, dass wir nicht alleine sind. Wir dürfen uns nicht provozieren lassen und wir müssen standhalten, auch wenn es schwierig ist.“
Die Situation entspannt sich schnell, die Reporter ziehen sich enttäuscht darüber, dass nicht mehr Drama zu sehen ist, zurück. „Die meisten unserer Medien sind unter chinesischem Einfluss“, erklärt eine junge Studentin. „Die wollen natürlich etwas sehen, das sie gegen uns verwenden können. Es wird ihnen langweilig hier zu sein.“
Ihr Freund pflichtet ihr bei. „Und den Protestierenden geht es ähnlich. Sie sitzen seit 5 Tagen vor dem Parlament und verlieren langsam die Motivation. Es staut sich so viel in ihnen an, das wollen sie loswerden. Sie wollen etwas erleben. Aber so läuft das hier nicht.“
Die Frustration darüber, dass die Regierung an den eigenen Plänen für das Handelsabkommen festhält, und das Gefühl der Hilflosigkeit wird auch der Grund dafür sein, dass es in der Nacht von Sonntag auf Montag zu einer Eskalation kommt. Unter der Anführung anderer Studierender und Aktivisten versucht eine Gruppe junger Menschen auch ein zweites Regierungsgebäude, den Exekutiven Yuan, zu besetzten. Was ich von Augenzeugen erzählt bekommen habe, kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen Protestierenden und Polizei, die schließlich in grobe Aggression überschlägt, bis die Polizei Wasserwerfer einsetzt und die zahlenmäßig unterlegenen Aktivisten einzeln aus dem Gebäude bringen. Die Szene endet blutig mit mehreren Inhaftierungen und knapp 70 Verletzten auf Seite der Protestierenden.
Der Ingenieursstudent zeigt sich besorgt über diejenigen, die das Gefühl haben, sie würden ihre Zeit mit rumsitzen verschwenden. „Wir erleben das immer wieder, das einige Leute Action wollen und anfangen, rumzuschreien und zu schubsen, gestern holte auf einmal einer ein Messer raus. Aber das sind nur einige Leute, der Großteil ist friedlich und hört auf das, was gesagt wird.“ Er hoffe nur, dass die Situation stabil bleibe – die nächtlichen Ereignisse scheinen in eine andere Richtung zu zeigen.
Wir haben uns etwas abseits gesetzt, um uns herum herrscht ein Chaos aus Kabeln, Kartons und Decken, in einem Zelt schläft ein junger Mann, übermüdete Freiwillige sprechen in Funkgeräte.
„Uns gehen langsam die Energie aus. Wir wollen noch immer kämpfen, aber wir machen schlapp“, erklärt er. „Ich war den ganzen Mittwoch hier und dann bin ich nach Hause gegangen und habe den ganzen nächsten Tag geschlafen. Wir haben viele Freiwillige, die helfen, aber wir alle haben nicht unendlich Kraft und müssen auch unser Leben nebenher weiterleben. Die Regierung weiß das. Aber noch geben wir nicht auf.“
Er muss langsam wieder zurück an die Arbeit, also habe ich eine letzte Frage an ihn. Keiner hatte zu Beginn erwartet, dass sich aus den Protesten, die mit einigen aufgebrachten Studierenden begannen und sich dann nach der nächtlichen Stürmungsaktion wie ein Lauffeuer über das Internet verbreitete, so eine große Sache werden würde. Und auf einmal ist er mit vielen anderen Teil dieser großen Sache. Wie fühlt sich das an?
Er zuckt mit den Schultern. „Es fühlt sich richtig an. Und ich muss sagen, ich bin stolz. Nicht stolz auf mein Land, sondern stolz auf meine Generation. Ich bin 22 und ich sehe all meine Gleichaltrigen, die zusammenhalten um für großartige Dinge zu protestieren. Ich denke, das sagt viel über uns aus. Und deshalb denke ich auch, dass wir Erfolg haben werden. Weil wir wissen, wofür wir stehen und weil wir bereit sind, alles dafür zu geben.“