Taipeh liegt in einem Tal, das heißt, überall sind die Berge nah. Ich brauche zwanzig Minuten mit dem Rad zum Fuß des Elefantenbergs, wo sich nach ein paar hundert Treppenstufen eine wunderbare Aussicht auf den Wolkenkratzer Taipei101 bewundern lässt und wenn ich mit der U-Bahn dreißig Minuten gen Norden fahre, bin ich am Fuß des Yang Ming Berges, wo sich in Beitou ein kochend heißer See mit türkisgrünem Wasser bewundern lässt, in dessen abgekühlten Wassers ich einmal die Woche baden gehe.
Von dem historischen Kern Beitous schlängelt sich ein Bus weitere 30 Minuten den Berg hinauf. Mir ging es gestern nicht darum, Attraktionen zu bewundern, sondern ich wollte meinen Kopf ein bisschen durchpusten. Also stieg in an einem Stopp aus, an dem sonst niemand aussteigen wollte. Es war neun Uhr morgens und unter mir erstreckte sich Taipeh. Die Morgensonne schillerte in den Flüssen, die durch Taipeh ins Meer fließen, mein Blick war gen Südost, wo die Sonne am wolkenlos blauen Himmel immer höher stieg. Der Asphalt hatte sich bereits etwas aufgeheizt, aber es war nicht heiß, an sich nicht einmal besonders warm, denn es blies ein frischer Wind, aber ich war genau richtig angezogen und hielt das Gesicht in die Sonne.
Die letzten Tage war es kalt und ich bin mir darüber bewusst, dass ich auf einem hohen Niveau jammere, aber mein Körper hat sich (erstaunlich) schnell an subtropisch-schwüle Spätsommertemperaturen gewöhnt. Wenn das Thermostat bis Anfang Dezember über 25 Grad anzeigt, dann fühlen sich verregnete 15 Grad in schlecht isolierten, unbeheizten Räumen plötzlich sehr kalt an. Erst seit Silvester lässt sich die Sonne wieder blicken und die Temperaturen sind auf über 20 Grad geklettert. Ich sehnte mich nach Sonne, die nicht brannte, sondern einfach wohlig wärmte, genau wie hier in den Bergen am dritten Tag des neuen Jahres, auf das ich mich tierisch freue, auch – oder vielleicht gerade – weil ich noch nicht weiß, was es bringen wird.
Ich folgte der Straße, schroffe Felsen auf der einen Seite und bewaldete Abhänge auf der anderen Seite und merkte plötzlich, dass ich vor einem Jahr – zum chinesischen Neujahr – genau hier nachts für einem Scooterausflug war. Die Erinnerung ließ mich für einen Moment lächelnd verweilen. Aus den umliegenden Bergen stiegen Dampfwolken von den heißen Quellen auf und der Wind trug einen leichten Geruch von faulen Eiern herüber. Ich rümpfte die Nase und versuchte, meinen Geruchssinn hinter den Hörsinn zu stellen. Es gab nichts zu hören. Gerade noch hatten ein paar Vögel gezwitschert, aber jetzt umgab mich nur Stille. Der Wind wirbelte ein paar leise Blätter auf, in der Ferne knatterte von Zeit zu Zeit ein Moped oder brummte ein Auto, ehe die Geräusche sich wieder verloren. Ich spazierte durch die sonnige Stille, atmete tief und ließ die frische (etwas dünne) Luft durch meine Lungen strömen. Manchmal plätscherte ein kleines Rinnsal und plötzlich schreckte mich ein Flugzeug auf, das viel zu nah über meinem Kopf gen Norden, vielleicht Japan, vielleicht China, hinweg bretterte. In meiner Jacke klimperte mein Schlüssel mit jedem Schritt, den ich machte, und es war so laut und störend, dass ich den Schlüssel in meiner Tasche verstaute.
Ich erreichte eine Plattform, die zwischen zwei Häusern in den Berg gehauen war, und bewunderte die Vielfalt der grünen Landschaft. Hinter mir bellte ein Hund und zog an seiner Kette. Sein Herrchen kam um zu sehen, was los war, warf einen Blick auf mich und schlurfte in großen Gummistiefeln zurück in seinen Gemüsegarten.
Vor einiger Zeit habe ich begonnen, mir vorzustellen, wo ich gerne kleine Häuser besitzen würde. Als ich dort in der winterlichen Morgensonne stand, die heller ist, als beizeiten die deutsche Sommersonne, konnte ich nicht anders, als davon zu träumen, genau hier mein eigenes Häuschen zu bauen und morgens in der Stille mit einem Tee unter einem Blumensparlier zu sitzen und in die unendliche Weite zu blicken, wo im diesigen Licht die Berge verblauen.
Ich ging weiter, bis ich hinter einer Kurve Menschen hören konnte. Ich war müde und mein Körper war schwer, mir schwirrten chinesische Vokabeln und Schriftzeichen durch den Kopf. Vor mir bereiteten sich Lilienfelder aus, wo weiße Blüten stolz in den Himmel ragten und Wasser plätscherte. Touristen bewunderten und fotografierten lachend die Blumen und blickten mich neugierig an. Mein chinesisch stellte sich als gut genug heraus, um zu hören, dass sie Chinesen und keine Taiwanesen waren und ihnen zu erklären, dass ich Deutsche sei. Mir stand der Sinn nicht danach, Touristenattraktion zu sein, ließ mich mit ein paar Familien fotografieren und behielt dabei meine Sonnenbrille an, und verkroch mich dann in eine hintere Ecke unter Bäumen, wo es wieder nur mich, die Stille und manchmal eine summende Fliege gab. Es roch nicht mehr nach faulen Eiern, sondern nach Essen, wobei ich mir nicht ganz sicher war, wo gekocht wurde.
Ich verweilte noch einen Augenblick in der Sonne, über den Berggipfeln schwebten inzwischen einige Federwolken und freute mich darüber, dass ein neues Jahr darauf wartete, gelebt zu werden.
Dann kaufte ich bei einer alten, zahnlosen Frau frische Reiswaffeln und begab ich mich auf die Suche nach einem Busstop, um zum Mittag zurück in der Stadt zu sein. Mein Kopf war wieder klar und auf mich warteten – und warten noch immer – viele Vokabeln und Schriftzeichen.
Januar 2015