Blog, Unterwegs

Tag 126: Kulturschock und Überwindung

Am 10.12.2014 saß ich frierend vor meinen Heizlüfter gekauert während es draußen aus Eimern goss und schrieb etwas verbittert Tagebuch. „Ich bin lange genug hier, um mich daheim zu fühlen. Aber die Umstände lassen es nicht zu. Ich möchte als eine unter Gleichen leben und ich möchte abends ins Bett gehen und denken ‚was für ein ganz normaler, durchschnittlicher Tag‘ und dann einfach einschlafen.“ Vor einem Monat war ich an einem Wendepunkt, nur, dass ich das zu der Zeit noch nicht wusste, sondern erst jetzt retrospektiv gemerkt habe.

Bevor ich 2011 nach Polen gegangen bin, wurden für mich viele Seminare organisiert, um mich vorzubereiten und nochmals vorzubereiten und um mich willkommen zu heißen. Auf diesen Seminaren wurde uns immerzu das Oberg-Phasenmodell des Kulturschocks vor Augen geführt, in dem es im Kern darum geht, dass bei dem Umzug in ein anderes Land sprich eine andere Kultur nach der Phase der Anfangseuphorie der eigentliche Schock folgt, in der eine Ablehnung der Gastkultur völlig normal ist, ehe es sich dann danach langsam einpendelt. Als ich in Polen lebte, erfuhr ich von einem solchen Kulturschock wenig, was jetzt nach meiner Taiwanerfahrung wieder ein Beweis dafür ist, dass Deutschland und Polen sich ähnlich genug sind, um in der Europäischen Union eng miteinander verbunden zu sein; aber das an anderer Stelle.

Jedenfalls hatte ich bisher keine Erfahrung mit dem Oberg-Modell gemacht und nachdem meine erste Erfahrung in Taiwan (wobei ich vergaß, dass ich damals nur zur Reise und nicht zum Leben hier war) so rosarot gewesen war, rechnete ich nicht damit, einen Kulturschock zu erleben, wenn ich mich nur darauf vorbereitete, sieben Monate in einer anderen Klimazone zu leben in der anders gekocht, gesprochen und gearbeitet wurde. Der Umstand, dass ich Mitte November eine Gehirnerschütterung hatte, zwei Wochen in meinem Bett lag und abwechselnd die Decke und den Regen vor meinem Fenster anstarrte, war nicht unbedingt hilfreich in meiner Phase der kulturellen Herausforderung.

Es begann so: Anfang November hatte ich genug davon, dass ich als Deutsche immerzu anders war, durch mein Aussehen auffiel, dass ich Exotin war. Die Aufmerksamkeit an sich störte mich nicht, doch ich war es Leid, immerzu die gleichen Fragen zu hören und die gleichen Antworten zu geben. Ich hatte das Gefühl, ich als Individuum sei nichts weiter, als ein Mosaik in einem großen, bewundernswerten Kunststück von Ausländern. Es ging nicht um mich, es ging immerzu um die Erwartung an mich als Deutsche. Ja, es ging immerzu um mich als Deutsche, wo ich doch mit Nationalstolz gar nichts anfangen kann. Dann schlug ich mir den Kopf und war an mein Bett gefesselt. Eine Gehirnerschütterung ist nie eine schöne Erfahrung und ein kranker Körper sehnt sich schnell nach Vertrautem (Zwieback zum Beispiel. Oder Bohnen. Oder Kohl) und vor allem nach vertrauten Menschen (will meinen: Mama). Wenn man am anderen Ende der Welt lebt, ist Kranksein noch weniger berauschend als sowieso.

Ich lag den ganzen Tag im Bett und merkte, dass um mich herum niemals Ruhe herrschte. Draußen auf der Straße war immer Hektik: Aufregung, Menschen, Verkehr. Einzig und allein bei Regen spielte sich das Leben drinnen ab, aber der Regen selbst veranstaltete solch einen Lärm, dass ich nicht klar denken konnte. Ich sehnte mich nach Stille, nach hochgeklappten Bürgersteigen nach acht Uhr, oder meinetwegen auch zehn. Der Regen roch anders und klang anders, ich wollte den stürmisch-nassen Herbstwind von der Nordsee.

Als Denken wieder leichter wurde, zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ich diesen Kulturschock verstehen und verarbeiten könne. Ich lehnte die taiwanische Kultur nicht ab und überhöhte auch nicht im Umkehrschluss meine eigene. Ich stellte sie mehr oder weniger gegenüber und merkte vor allem, dass mich das Leben in Taiwan erschöpfte. Es gab so vieles zu entdecken, alle Sinne wurden ausgereizt. Es verging kein Tag, an dem ich nichts erlebte, das mich zum Grübeln brachte, mich inspirierte oder einfach verwunderte. Ich fiel abends ins Bett und mir war beinahe schwindelig von all den Eindrücken. Mir fehlten ein paar Menschen, die ich gerne an die Hand genommen und durch meine fantastische Stadt geführt hätte, und ich hatte unglaublichen Heißhunger auf Grünkohl aber im Großen und Ganzen fühlte ich mich wohl. Ich hätte nur manchmal gerne eine Pause von all dem Ungewohnten gehabt. Aber ich war ununterbrochen davon umgeben; selbst in mein Zimmer im 5. Stock krochen die Gerüche aus den umliegenden Küchen.

Es waren vor allem zwei Dinge, die mir zu schaffen machten: Erstens die unglaubliche Vielfalt von Sinneseindrücken und zweitens der Umstand, dass ich als Individuum mich übergangen fühlte und gleichzeitig das Gefühl hatte, eine Rolle spielen zu müssen, bei der ich nicht einmal wusste, was dazu gehörte. Und in Anlehnung an letzteres zählte auch, dass ich zunehmend das Gefühl hatte, Taiwanesen aufgrund dieser kulturellen Distanz nicht auf Augenhöhe begegnen zu können. Es war ermüdend, mich und meine Witze immerzu erklären zu müssen.

Nach meiner Gehirnerschütterung beschloss ich, meine Integrationstaktik zu verändern. Was in Polen wunderbar funktioniert hatte, tat mir in Taiwan nicht gut. Ich hielt den Kontakt zu meinen taiwanischen Bekannten und vertiefte aber Bekanntschaften und Freundschaften mit anderen jungen Menschen, die neu in Taiwan lebten und im Westen aufgewachsen waren (der Umgang mit Amerikaner*innen führt zwar nach wie vor zu ganz eigenen Verständnisproblemen, aber auf einer anderen Ebene). Ich schuf mir eine vertraute Insel im Meer des Unbekannten und begann langsam meine Andersartigkeit zu akzeptieren.

Ich machte Fortschritte im Chinesischen, konnte schon kleine Konversationen führen und ging mit zittrigen Knien, bewaffnet mit den Vokabeln „lange Haare“ und „ein bisschen“, zum Haareschneiden und war hellauf begeistert. Aber so sehr ich mein Leben in Taipeh genoss, so begegnete ich der Kultur doch sehr skeptisch und bemerkte, dass ich immer in „wir und die“ dachte. Ich las Bücher über Geschichte und Kultur Taiwans und begann, die taiwanische Musikszene kennen zu lernen (die natürlich viel mehr zu bieten hat, als chinesische Flöten und Volksmusik).

Über Weihnachten flog ich auf die Philippinen und erlebte eine Woche voller neuer Eindrücke. Ich bekam die Möglichkeit wieder in eine ganz andere Welt zu blicken und war teils erschüttert und oft beeindruckt. Gleichzeitig sehnte ich mich nach Taipeh (und an Heiligabend natürlich nach meiner Familie). Als ich wieder in Taipeh landete, freute ich mich über die Heimkehr und darüber, wieder in vertrauten Straßen laufen zu können.

Seit meiner Rückkehr habe ich viel zu tun, denn in diesen Tagen stehen die Endsemester-Prüfungen an. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viel Zeit am Stück über Büchern und Heften verbracht. Aber ich kann meinen Fortschritt bemerken. Ich versuche, so viel wie möglich chinesisch zu sprechen und merke, dass die meisten geduldig genug sind, um mich verstehen zu wollen. Ich verbringe viel Zeit in den Cafés in meiner Nachbarschaft und weiß, welche Kellner*innen Deutsch sprechen, welche an meiner Uni studieren und welche unbedingt mal nach Europa wollen. Ich kenne die attraktiven jungen Männer in meiner Nachbarschaft oder den Cafés, die nur chinesisch sprechen – aber immerhin motiviert mich das bei meinem endlosen Gelerne. Immer wieder die gleichen Schriftzeichen.

Ich stelle mich bei Taiwanesen mit meinem chinesischen Namen vor, denn ich habe ihn sehr gern. Wenn mir jemand Fragen über Deutschland stellt, dann beantworte ich sie gerne, denn Deutschland ist ein interessantes Land, über das es viel zu bereden gibt.

Ich habe festgestellt, dass es nach zehn im Daan Park sehr ruhig und friedlich ist; dass es vor allem an sonnigen Morgen in den umliegenden Bergen so still ist, dass ich mich selbst atmen höre; ich  weiß jetzt auch, dass Taipeh nach Mitternacht doch zum größten Teil schläft und man die Stadt wunderbar mit einem Motorroller erobern kann.

Zwei Freunde haben mir ein deutsches Restaurant gezeigt, in dem es Punsch gibt, der genau so schmeckt, wie auf dem Weihnachtsmarkt in Oldenburg und im 7/11 verkaufen sie seit kurzem deutsches Malzbier.

Vor allem aber habe ich mich daran gewöhnt, dass ich anders bin. Ich werde ja dennoch akzeptiert. Manchmal vielleicht mit gerunzelter Stirn, aber meistens doch überschwänglich. Ich habe gemerkt, dass mir mein Ausländerin-Sein die Möglichkeit gibt, ganz genau ich zu sein. Wenn jemand mich für meine weiße Haut beneidet, dann lache ich es weg. Wenn jemand meine Haare lobt, weise ich auf die tolle Friseuse hin, die sie mir geschnitten hat. Und wenn jemand sagt, ich könne so glücklich sein, Deutsche zu sein, weil mich das zu einem so coolen Menschen mache, kann ich nur sagen, dass ich zu dem Menschen geworden bin, der ich bin, weil ich nicht nur in Deutschland, sondern auch sonst wo gelebt habe; zum Beispiel hier, im wunderbaren Taiwan.

Ich habe auch festgestellt, dass es viele Menschen gibt, die sehr daran interessiert sind, was mich nach Taiwan bringt und was ich von Taiwan denke. Ja, es ist die Mehrheit, die nicht nur mit mir reden will, weil ich weiße Männer kenne und mich gut in Fotos mache (um es drastisch auszudrücken). Die sind nur etwas zurückhaltender, denn sie sind nicht auf der Suche nach Weißen – sondern einfach auf der Suche nach netten Bekanntschaften.

Vor allem aber habe ich gemerkt, dass es hilft, sich seiner Herkunft bewusst zu sein, um sich in so einer fremden Welt einzufinden.

In den letzten Tagen bin ich etwas wehmütig, wenngleich das Wetter endlich wieder wärmer und sonnig ist. Ich bin glücklich hier in Taiwan und ich fühle mich daheim. Ich lebe als eine unter Vielen und genieße es. Meine besten Freunde sind Ausländer wie ich, aber ich habe viele taiwanische Bekannte, mit denen ich gut einige Stunden verquatschen kann. Morgens gehe ich immer noch von acht bis zehn zu meinem Chinesisch-Kurs, meine Lehrerin will uns immer noch alle mit Taiwanesen verkuppeln und wir haben inzwischen Insider-Witze. Ich habe mich daran gewöhnt, dass Sarkasmus hier nicht gut ankommt und der Abschied davon fiel mir nicht schwer. An jeder Ecke bringen mich Kleinigkeiten zum Lächeln, auch, wenn sie nicht mehr außergewöhnlich sind. Ich bin angekommen und spüre schon jetzt, 2.5 Monate vor meiner Abreise, einen Trennungsschmerz. Ich wünschte Taipeh wäre näher an Europa, wo ich nach wie vor mein Zentrum und mein Herz habe, denn ich könnte mein ganzes Leben hier bleiben und glücklich sein. Aber weil ich mich entscheiden muss, entscheide ich mich jetzt für Europa und bin dankbar darüber, dass ich die Möglichkeit habe, mich dennoch in Asien zu verlieben.

Januar 2015

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