Gestern war ein wundervoller Tag. Nach zwei nassen, grauen und kalten Wochen kam endlich wieder die Sonne raus und als ich mittags aus dem Bett kroch, stand sie bereits hoch genug, um geradezu Sommerstimmung zu vermitteln. Ich putzte mich etwas heraus, denn ich war in der besten Laune und mir stand der Sinn danach, besonders hübsch auszusehen. Entspannt und voller Ruhe, weil ich keinen Verpflichtungen nachkommen musste, stürzte ich mich in das Gewimmel vor meiner Wohnung. Ich ließ mich im Trubel der Stadt treiben und merkte etwas Wehmut zwischen all der Glückseligkeit aufkommen, weil meine Abreise naht und weil ich nicht mehr als ein Kalenderblatt brauche, um die Tage zu zählen, die mir in Taiwan verbleiben.
Als die Sonne sich verzog, schaute ich auf dem Heimweg in einer Bar vorbei, in der ich inzwischen den Besitzer kenne – nicht, weil ich so häufig dort war, sondern weil die Ausländerszene in Taipeh doch relativ überschaubar ist und es leicht ist, andere Expats kennen zu lernen. Wir überlegten, wie man meinen Abgang am würdigsten feiern könnte. Da es wie gesagt ist, nicht schwer ist, ausländische Freunde auf Zeit zu finden, schloss ich mich einer kleinen Gruppe Amerikaner an, die mich auf Umwegen zu einer Kellerbar lotsten, die in mir Erinnerungen an meine Feierei in Krakau aufkommen ließ. Ein Saxofonist begleitete die alten Hits, die der DJ auflegte und Menschen relaxten auf Sofas. Es war leicht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Doch ich war etwas müde und mir stand der Sinn nicht nach den im Grunde doch immer selben Fragen: „Woher kommst du, Australien? Was machst du hier, Englischlehrerin?“
Mein Mitbewohner rief mich an, als ich auf dem Heimweg war. Ihm sei langweilig, ob ich demnächst nach Hause kommen würde. Ich bin erst nach meiner Rückkehr aus Vietnam bei ihm eingezogen und ich wünschte, wir hätten von Beginn an eine Wohnung geteilt. Es ist klasse, mit jemandem zusammen zu wohnen, mit dem man ohne schlechtes Gewissen stundenlang taiwanische Seifenopern oder amerikanische Kinderserien gucken und danach über den Sinn des Lebens philosophieren kann. Es ist auch gut, jemanden um sich zu haben, wenn die Gefühle über die nahende Veränderung Überhand nehmen und man einfach jemanden zum zutexten braucht.
Wir kletterten auf das Dach des Hauses. Der Ausblick ist nicht besonders außergewöhnlich, denn wir sind von vielen höheren Dächern umgeben, aber man sieht deutlich den Taipei101 in der Ferne blinken und die unspektakuläre Umgebung aus grün bepflanzten Hausblöcken hat etwas Beruhigendes, vor allem, wenn junge Menschen wie wir rastlos über unser Leben, unsere Ziele und unsere Träume nachdenken und das Gefühl haben, alles zu wollen und nichts zu können. Die Schlichtheit erdet uns auch, wenn wir das Gefühl haben, alles zu können und in unserem Eifer Gefahr laufen, uns zu übernehmen.
Ich saß oben auf dem Dach und dachte mir, wie schade es ist, diesen Rückzugsort bald verlassen zu müssen und wie sehr mir das nächtliche Philosophieren fehlen wird. Aber ich war dennoch glücklich und genoss die laue Nacht, die von ruhigem Verkehr unterlegt war.
Es ist etwas länger als ein halbes Jahr her, dass ich meine Reise nach Taipeh angetreten habe, damals plötzlich unsicher, ob es eine gute Entscheidung gewesen ist, so weit weg zu leben. Da ich die vergangenen verregneten Tage nicht mehr genutzt habe, um Taipeh zu erkunden, hatte ich Zeit, mich zu betrachten und darüber zu reflektieren, was in den letzten Monaten geschehen ist. Und vor allem, welchen Einfluss mein Austauschsemester auf mich hatte. Denn dieser Einfluss, das weiß ich ganz genau, ist beträchtlich.
Ich blicke morgens in den Spiegel und irgendetwas fühlt sich anders an, gut anders, aber dennoch anders. Ich halte manchmal inne und lausche dem, was ich gesagt habe. Manchmal kichere ich, weil ich Sprachen durcheinander geworfen habe und manchmal ist es einfach interessant, sich selbst zuzuhören. Ich kann nicht sagen, was die Andersartigkeit ausmacht, denn ich bin ganz eindeutig noch immer ich. Nur irgendwie in einer advanced Version.
Es ist schwer, Worte über jemandes eigene Entwicklung zu schreiben, vor allem wenn man 21 Jahre alt ist und sowieso immerzu fürchtet, altklug zu klingen. Aber trotz allem habe ich das Gefühl, dass ich aus irgendeinem Grund hier in Taiwan, so weit weg von der Heimat, einerseits ein ganzes Stück erwachsen geworden bin und andererseits viel darüber lernen konnte, wo ich hingehöre.
Ich habe dadurch, in der Fremde zu sein, die Herausforderung, aber auch die Chance gehabt, mich selbst zu definieren und mir über meine Werte klar werden zu können. Ich konnte von der taiwanischen Kultur lernen und in Abgrenzung zu ihr feststellen, was mir an Europa liegt. Ich konnte Antworten auf Fragen finden, die ich mir vor den Erfahrungen hier nie gestellt habe und ich habe neue Perspektiven auf Altvertrautes, auf das Leben, auf die Welt und folglich auch auf mich, bekommen können. Ich habe meinen Horizont erweitern können und das hat dazu geführt, dass ich mir nicht mehr sicher bin, welchen Weg ich im Leben einschlagen möchte und was mein Ziel ist. Aber ich konnte auch lernen, dass ich alle Zeit habe, um darauf Antworten zu finden. Ich bin nicht in dem Lebensabschnitt für Antworten und Entscheidungen; ich lebe in einer Zeit von Fragen, Neugier und Abenteuerlust.
Ich kann das erste Mal nicht nur Antwort auf die Frage nach meinen Stärken, sondern auch auf die nach meinen Schwächen geben – ohne dennoch meine eigenen Qualitäten im Großen und Ganzen anzuzweifeln. Ich fühle mich kraftvoll. Auch deshalb, weil ich den Wert guter Freundinnen und Freunde und die Unersetzbarkeit von Familie neu und besonders schätzen gelernt habe. Ist es nicht verrückt, dass man manchmal um die halbe Welt reisen muss, um die nahliegendsten Dinge als Prioritäten erkennen zu können?
Eine meiner großen Qualitäten, das habe ich auf jeden Fall gemerkt, ist mein kämpferischer Idealismus. Ohne die Möglichkeit, mitzugestalten und Veränderung zu bewirken, fehlt mir etwas im Leben. Und deswegen habe ich gemerkt, dass ich nach Europa gehöre. In Europa habe ich meinen Platz, dort weiß ich, was ich tun kann. Dort habe ich Mitstreiter*innen und ein Netzwerk. Dort kenne ich die Spielregeln und Codes gut genug, um mitzumischen.
Taiwan, das weiß ich, wird mir fehlen. Der Abschied wird nicht leicht und sicher tränenreich. Aber in mir lodert unbändige Freude auf die Rückkehr nach Deutschland und auf das „Vor-Ort-Sein“ in Europa. Ich bin froh, zwei Wochen zum Abschiednehmen zu haben. Und ich bin überglücklich, zurück nach Hause zu kommen. It’s been too long.
März 2015