Als ich beschloss, nach Tallinn zu reisen, was eine sehr spontane Idee meiner Mutter war, die mit Mann und Kind Urlaub machen wollte, war ich davon überzeugt, irgendwie außergewöhnlich zu sein. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es viele Menschen in diesen östlichen Zipfel Europas zog, noch dazu im Sommer, wenn anderswo Sonne und Wärme locken. Dabei hatte Tallinn einen großen Reiz für mich – oder auch gerade weil ich es mir so unerforscht vorstellte.
Ich wollte die Hauptstadt eines Landes kennenlernen, das sich mit seiner jungen Demokratie in kurzer Zeit unglaublich entwickelt hatte. Ein Land, in dem Politik (auch) von jungen Menschen gemacht wird. Ein Land an der Grenze von EU und Russland. Ein Land mit vielschichtigen gesellschaftlichen und sprachpolitischen Herausforderungen. Ein Land, in dem eine frühere Besatzungsmacht noch immer so präsent ist. Ich wollte das kleine Land am Rand Europas kennen lernen, das so pro-europäisch, so pro-EU ist. Kurzum, ich brannte darauf, nach Tallinn zu fliegen.
Vor meiner Abreise war ich überrascht: jede und jeder, der oder dem ich von meinen Reiseplänen erzählte, war bereits dort gewesen, oder eine Tante oder ein Nachbar. Alle waren begeistert, lobten die Stadt über den grünen Klee. Meine Vorfreude wurde noch befeuert.
Ich landete an einem lauen Montagabend, draußen war es erstaunlich hell und der Himmel war wolkenlos und strahlte blau. Die Luft roch nach Meer und der Wind brachte eine Brise, die klarer und feiner roch als daheim.
Es wurde draußen langsam Nacht, als ich mich erwartungsvoll auf den Weg machte, um die hochgepriesene Altstadt Tallinns zu erkunden.
Die Altstadt, die seit 1997 auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbe steht, beeindruckt mit mittelalterlichen Strukturen und einer fast vollständig erhaltenen Stadtmauer, samt Toren und Türmchen, deren Bau im 13. Jahrhundert begann.
Ich stieg eine Straße aus grobem Kopfsteinpflaster hoch, links in lachsfarbenem Anstrich das Parlamentsgebäude, rechts mutete die Alexander-Newsky-Kathedrale mit rosa Anstrich und schwarzen Zwiebeldächern an. „Wie entzückend“, dachte ich mir und fotografierte wild drauf los.
Die Kopfsteinstraßen Tallinns sind überall von pastellig bunten Häusern mit kunstvoll bemalten Türen gesäumt und tragen die entzückendsten Namen, jedenfalls für deutsche Augen und Ohren.
Über der malerischen, gar märchenhaft wirkenden Altstadt ging ein fast voller Mond auf, Menschen aller Nationen schlenderten durch die Gassen, verweilten einige Momente am Straßenrand und fotografierten die bunte, strahlende und kunstvoll angeleuchtete Pracht. Ich fühlte mich wie in einem Film mit fantastischem Setting, aus Restaurants schallte ein ruhiger, swingender Soundtrack und Kellner luden lächelnd ein, auf ihren Terrassen einen Drink zu genießen ohne dabei aufdringlich zu sein oder mich gar aus meinem bewundernden Staunen zu reißen.
Tallinn ist in seiner Art einzigartig, was selbstverständlich ist, wenn man die Altstadt betrachtet, die mehrere Jahrhunderte überstanden hat, dazu auch das letzte, oft grauenvolle Jahrhundert voller Kriege, Besetzungen und Repressalien gegenüber Bevölkerung und Nation. Seit sie es auf die UNESCO-Liste geschafft hat, ist sie hergerichtet wie ein riesengroßes, makelloses und einmaliges Freilichtmuseum. Durch die Altstadt zu laufen kam mir zuweilen fast unwirklich vor, denn alles wirkt einfach – perfekt. Ich fühlte mich an die Ritterburg von Playmobil erinnert, mit der ich als Kind gespielt habe. Alte hanseatische Bauten mit Lastkränen unter dem Giebeldach wiederum weckten in mir Heimatgefühle, doch auch Erinnerungen an andere (nord-)östliche Städte in Europa wurden aufgerufen.
Ich staunte eine ganze Nacht und einen halben Tag über die Schönheit.
Dann wurde es mir langweilig.
Ich lief unter Torbögen hindurch, fragte mich, warum die Regenrinnen an den Häusern alle auf die Gehwege führen und dachte mir, dass es so etwas wie „Perfektion“ im Grunde nicht gibt; dass wenn überhaupt nur oberflächige Schönheit zu der trügerischen Einbildung dessen führen kann. Besagte Schönheit war atemberaubend, doch ich wollte mehr. Ich suchte das estnische Leben in der Stadt und fand es nicht. Die Restaurants waren schwer erschwinglich für eine Studentin wie mich, die Läden, die lokale Kunsthandwerksprodukte anboten, verkauften alle die gleichen Waren und die einzigen Esten, die ich wahrnahm, waren die, die mich in Cafés bedienten oder anboten, mich mit dem Fahrradtaxi zu kutschieren. Ich hatte das Gefühl, die ganze alte Innenstadt sei einzig und allein dazu da, die touristischen Bedürfnisse nach mittelalterlichem Idyll zu befriedigen. Die Touristen ließen sich nicht im tallinner Alltag treiben, sondern das Altstadtleben war ganz auf sie ausgerichtet. Ich suchte Authentizität, Lebendigkeit, wollte Brüche sehen. Alles erschien mir zwar so traumhaft, aber auch gerade deshalb gekünstelt, nicht mehr als eine Fassade. Ich fragte mich, wo sich die estnische Seele versteckt.
Nun war ich mit meinem Urteil wohl etwas unfair, auch vorschnell; viel zu überstürzt. Von anderen Städten bin ich es gewohnt, anzukommen und innerhalb weniger Stunden wenigstens eine Illusion davon zu haben, was das Herz der Stadt und der Stadtkultur ausmacht. In Tallinn fühlte ich mich unbefriedigt, denn es gab so vieles zu sehen, doch so ganz ohne Gefühl. Die Stadt war wie eine Geschichte, die wunderbare Bilder vor das innere Auge zaubert, doch in der im Grunde nichts geschieht. Ich war unbefriedigt, weil ich spürte, dass mein harsches Urteil ungerecht und falsch war, aber in meiner Ungeduld konnte ich dennoch keinen anderen Zugang finden.
Ich verließ die restaurierten Gassen der Altstadt und freute mich über Häuser, an denen der Putz bröckelt und Graffiti lacht. Abends im Park tranken Jugendliche und ich erfreute mich auch an diesem Anblick, doch ich hatte immer noch das Gefühl, dass Tallinn einen großen Teil – den wesentlichen Teil – von sich verbarg. Alles wirkte so arrangiert, so zweckgemäß platziert, so angepasst.
Am Mittwochabend beschloss ich, mich unter Menschen zu mischen. Ich war tags an der Küste entlang aus der Stadt gefahren, vorbei an großen Villen mit Tennisplätzen und vorbei an modernen Apartmentblocks, bis ich beim alten Regatta Gebäude in Pirita ausstieg. Das Gebäude, das für die Sommerolympiade 1980 errichtet wurde, wirkt imposant, aber in dieser Imposanz auch traurig. Aus ihm spricht die Freude darüber, während der russischen Besetzung eine internationale Veranstaltung organisieren und die Welt empfangen zu können. Umso mehr kann man aber auch ein Gefühl für den Frust bekommen, der der Freude gefolgt sein muss, als die Spiele von einem Großteil westlicher Länder boykottiert wurden. Ich saß eine Weile auf den Steinen am Ufer und beobachtete Fähren auf ihrem Weg von und nach Finnland, bis es langsam anfing erst zu tröpfeln, dann zu nieseln und schließlich zu regnen.
Es gibt in Tallinn, wie inzwischen in jeder touristisch erschlossenen Stadt in Europa, einen Pubcrawl. Ich hoffte darauf, dort im Laufe der Nacht mindestens ein oder zwei Esten kennenzulernen, die ich nach der Seele Tallinns fragen könnte. Ich hatte mehr Glück, als ich mir hätte träumen können.
Pubcrawls haben einen sehr ambivalenten Ruf. Einige lieben sie, andere können sie schon aus Prinzip nicht ausstehen. Das Konzept ist in der Tat etwas fragwürdig, denn im Kern geht es darum, mit einer Gruppe von Touristen von einer Bar in die nächste zu ziehen und sich zu betrinken, bis keiner mehr gerade stehen kann. Doch wie alles im Leben steht und fällt auch eine solche Tour mit den Menschen, die daran teilhaben und Alkohol hin oder her – es ist eine unvergleichbare Möglichkeit, Menschen und das Nachtleben in einer unbekannten Stadt kennen zu lernen.
Mittwochnacht war kalt und nass und so tauchten außer mir nur zwei Engländer auf. Der eine arbeitet für einen Abgeordneten des Europaparlaments der gleichen Fraktion wie einer meiner Professoren. Wir verstanden uns sofort, weil wir über unseren gemeinsamen Bekannten sprechen konnten, der weder in dem einen noch in dem anderen Beruf besonders glänzt, und weil wir uns darüber freuten, was für ein Dorf die Welt doch ist. Wir alle störten uns nicht daran, in kleiner Runde zu sein, die von vier Esten bereichert wurde, mit denen wir Lebensgeschichten und Anekdoten teilten und die uns estnische Kultur und Trinkspiele vermittelten. Es sind diese kleinen Begegnungen, Tage und Abende in netter Runde, in denen man wirklich spürt, wie sehr Europa zusammenwächst. Es sind diese Tage und Abende, bei denen man auch merkt, warum man das Reisen nicht lassen kann, sobald man einmal damit begonnen hat. Und es sind diese Tage und Abende, an denen man fasziniert darüber ist, wie einfach internationale Begegnung ist und an denen man nicht versteht, warum es so schwer scheint, die Welt auf einen Nenner zu kriegen.
Wir beschlossen, den Pubcrawl einfach sein zu lassen und unser eigenes Programm durchzuziehen. Ich war glücklich, denn ich fand mich umgeben von Esten, die bedauerten, dass ich mit Tallinn nicht richtig warm wurde und die versprachen, mit mir hinter die Fassaden zu blicken.
Es war in dieser Nacht, dass ich langsam zu verstehen begann, wie Tallinn tickt, denn ich merkte, dass die Stadt eine großartige Repräsentation der estnischen Mentalität ist. Die Esten sind ein unglaublich liebenswertes Volk, aber zurückhaltend und nahezu unauffällig. Vielleicht hängt das mit der langen Geschichte von Unterdrückung und Fremdherrschaft zusammen oder vielleicht mit den langen, dunklen Wintern, die zu einem ruhigen, etwas in sich gekehrten Gemüt führen. Ich kenne nicht allzu viele Esten, doch ich habe die, die ich kennen gelernt habe, in mein Herz geschlossen, weil sie aufrichtig, offen und herzlich sind. Sie neigen nicht zu Prahlerei und reden erst über sich, wenn man danach fragt. Ähnlich, so scheint es mir, verhält es sich mit Tallinn. Erst wenn man loszieht und bohrt und tiefer gräbt, kann man aus der Welt, die für Touristen geschaffen scheint, ausbrechen und Tallinn mit all seinen vielfältigen Facetten erobern.
„Ich will mehr sehen als die Altstadt“, sagte ich abends bei einem Cider, das in Estland viel getrunken wird und wunderbar schmeckt. „Es gibt nicht viel zu sehen“, wurde mir geantwortet. „Tallinn ist nicht sehr groß und außerhalb der Altstadt nicht sehr hübsch.“
Doch ich scherte mich nicht um Schönheit. Ich wollte nicht durch restaurierte Überbleibsel längst vergangener Geschichte wandern, sondern wollte auf Pfaden gehen, wo ich Spuren der jüngeren Geschichte finden konnte. Wo ich spüren konnte, wie es sich anfühlt, als junger Mensch in Tallinn zu leben.
Wir machten einen kurzen Abstecher in eine Bar voller Neonlichter und junger Reisender, in der Alkohol mit mehr Alkohol und bunten Farben gemischt und hastig gekippt wurde. Die Bar hätte in jeder Stadt Europas sein können und wir zogen bald weiter. Die nächste Kneipe war in der hinteren Ecke eines Hinterhofes versteckt, an den Wänden prangte Graffitikunst, junge Menschen spielten zu der Life-Musik einer Jam Session Billiard und Tischkicker und jeder traf ununterbrochen irgendjemanden. Estland ist kein großes Land und bei einer Einwohnerzahl von knapp 1.3 Millionen kennt jeder jeden und sei es nur über ein, zwei Ecken. Ich saß beseelt an der Bar und unterhielt mich mit verschiedenen Menschen über das Leben, das Reisen, nicht unbedingt über Gott, aber viel über die Welt. Die Esten scheinen wir sehr geerdet zu sein, selbstzufrieden und realistisch, aber dennoch voller Lebensfreude und Neugierde.
Ich reise viel und ich reise gerne und über die Jahre habe ich mir angewöhnt, schnell Kontakte zu knüpfen, denn allein wird man nie das gleiche Erlebnis haben und nie die gleichen Gefühle für einen Ort entwickeln, als wenn man mit einem Ortsansässigen unterwegs war.
Ich verabschiedete mich spätnachts, oder eher schon früh morgens, von der Gruppe, weil mir nach Essen war.
Als ich in der frischen Julinacht saß und einen Döner aß, was ich auch in jeder anderen Stadt hätte machen können, hatte ich dennoch plötzlich das Gefühl, der Tallinner Seele näher zu kommen. Das hing unweigerlich damit zusammen, dass ich mit einem smarten Studenten aus Tallinn mit faszinierenden Augen auf einem steinernen Blumenkübel saß, der sich eben begeistert mit einem jungen Parlamentarier unterhielt, der undercover im Nachtleben unterwegs war.
Wir liefen im Dämmerlicht durch die jetzt ausgestorbene Stadt, bis wir auf die roten Ziegeldächer und die spitzen Türme wenig genutzter Kirchen blickten. Am Horizont leuchtete ein mit unbeschreiblicher Strahlkraft ein gelber Streifen. Die Sonne ging auf und kündigte einen neuen Tag an, über uns kreischten Möwen und einige Meter links stand verloren ein junger Mann an einem Snackstand und wartete vergeblich auf Kundschaft. Die Häuser um uns herum hatten vor vielen Jahren mal einen neuen Anstrich verpasst bekommen, jetzt waren die Farben ausgeblichen und blätterten an einigen Stellen, ich fand es awesome, und er fand es auch awesome und sowieso war alles awesome und fantastic, nur in meinen Schienbeinen spürte ich ein Ziehen, weil meine norddeutschen Beine nicht an ständige An- und Abstiege gewohnt waren.
Egal wo man ist – dem Morgen wohnt immer ein besonderer Zauber inne. An einem frühen Morgen, an dem man den Partystraßen entflieht und vor den ersten eifrigen Touristen an pittoresken Orten verweilt, bekommt alles eine neue Bedeutung. Die Ruhe der frühen Stunde schafft Klarheit, die Frische sorgt für neue Gedanken. An einem Morgen kann in wenigen Worten das ganze, eigene Weltbild über den Haufen geworfen werden.
Ich saß auf einer dicken Mauer, baumelte mit den Beinen und genoss die Normalität, die vor dem herrlichen Stadtpanorama in so großartiger Gesellschaft herrschte.
Im Sommer, lernte ich, verlassen die Einheimischen in der Tat die Stadt und überlassen Tallinn den Touristen und ihren Objektiven. Es zieht sie auf umliegende Inseln und sonst wohin in den Urlaub. Die jungen Menschen, die in Tallinn bleiben, treffen sich abends in verlassenen Gebäuden mit Blick auf die Weite der Ostsee und auf das Ufer Estlands. In Gebäuden, wo aus Rissen im Beton Unkraut wächst. Sie trinken in Vierteln, die nicht besonders hübsch, aber dennoch im Kommen sind nachmittags Kaffee und abends Bier und Cider. Und immer wieder mischen sie sich ins internationale Stadtleben, aber auf ihre eigene, unauffällige Art. Sie geben Gebäuden, die verfallen und zugewuchert an Unterdrückung und sowjetische Herrschaft erinnern, neue Bedeutung und neues Leben, das teils in grotesk-postapokalyptisch wirkender Umgebung stattfindet.
Am nächsten Tag merkte ich, dass es manchmal genügt, eine Stadt einmal durch die Augen eines Locals gesehen zu haben, um empfänglich für Dinge zu werden, die außerhalb der Touristensphäre liegen. Es genügt, den Geschichten zu lauschen, die ein junger Mensch zu erzählen hat, dessen Leben in und um die Stadtmauern einer Touristenstadt, die erst seit recht kurzer Zeit im Sommer die Welt empfängt, stattfindet. Ich habe mich leicht und gerne anstecken lassen von der Zuneigung, mit der meine estnischen Bekannten über ihre Stadt im Wandel sprachen.
Städte können sich durch Schönheit und durch Charme auszeichnen. Wie inzwischen so oft wiederholt, ist Tallinns Altstadt wunderschön, ebenso die Gärten und Parks um zu, wo Blumenkunst beeindruckt und amüsiert. Doch der Rest ist nur für Liebhaber realsozialistischer Betonarchitektur eine Wonne und davon gibt es nicht viele. Alte Bauten wurden vernachlässigt, neuere Gebäude wurden schnell hochgezogen und erfüllen nur ihren Zweck und im Kontrast dazu wirken moderne, asymmetrische und verglaste Hochhäuser und Wohnblöcke irgendwie fehl am Platz und dennoch auf un erklärliche Art passend. Vielleicht weil sowieso eigentlich nichts recht zueinander passen mag. Trotzdem hat Tallinn auf unerklärliche Weise Charme und wenn man ihn erst einmal gefunden hat, wird man davon ganz und gar in den Bann gezogen.
Es ist entspannt auf einer lange ungenutzten, mit Graffiti verzierten Eventhalle zu sitzen und auf das Meer und den Hafen zu blicken und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Es ist herrlich unaufgeregt, durch nicht besonders berauschende, aber belebte Straßen zu schlendern. Ich bekam ein Gespür für die Lebensrealität des letzten Jahrhunderts, als ich in die leeren Fenster eines zerfallenen Hochsicherheitsgefängnisses blickte, das geschlossen werden musste, ehe Estland in die EU aufgenommen wurde. Der Umstand, dass dort inzwischen Rave Partys veranstaltet werden, hat mich wiederum fasziniert. Ich spürte die Aufbruchsstimmung und das Vorwärtsdenken der Esten nicht nur im direkten Austausch, sondern auch in den Neubauten außerhalb der Altstadt.
Selbst die angespannten estnisch-russischen Beziehungen bekam ich zu spüren, als ich in eine Mahnwache stolperte, die vor der russischen Botschaft gehalten wurde. Knapp zehn verärgerte Männer brüllten anti-russische Parolen und nannten Putin einen Mörder, während die Touristen sie fotografierten und danach einen Kuchen im ältesten Café Tallins aßen, wo eine ältere Dame kunstvoll Marzipanfiguren bemalte. Trotzdem konnte ich nicht die Tiefe der gesellschaftlichen Herausforderung fühlen. Ich war nicht in den Dörfern im Nordosten des Landes, wo über 90% Russen leben und die Uhren auf den Marktplätzen nach Moskauer Zeit gestellt sind. Ich stecke nicht in der Haut derer, die lieber staatenlos bleiben, als sich für einen Pass entscheiden zu müssen. Ich lebe nicht in ständiger Skepsis und auch Sorge gegenüber einer russischen Invasion, beflügelt und angespornt noch von den reißerischen Parolen der Presse. Ich kann nur lesen, dass Amnesty International die estnische Sprachpolitik kritisiert, doch lerne in Tallinn, dass es durchaus junge Menschen mit russischen Vorfahren gibt, die sich selbstverständlich als Esten integrieren und für die Estnisch ohne Frage die Muttersprache ist. „Alle sind in Estland willkommen“, erklärte bei Sonnenaufgang der charmante Student, von dem ich so viel über Tallinn und Estland lernen konnte. „Aber sie müssen dennoch bereit sein, sich in das Land integrieren zu wollen. Es ist kein Teil von Russland.“ Ich war zugegebenermaßen überrascht, zu hören, dass es nur Pro-Europäische Parteien in Estland gibt – und nicht einmal die russische Bevölkerung eine pro-russische Partei unterstützte, die versuchte, populär zu werden.
An meinem letzten Tag in Tallinn war es abwechselnd sonnig und nass und am Himmel bauschten sich beeindruckende Wolkengebilde. Ich erkundete Innenhöfe, in die ich durch kleine Torbögen trat und wo in Gallerien, nicht mehr als ein Zimmer, aufstrebende Künstlerinnen und Künstler ihre Kunst ausstellten. Wo in kleinen Lädchen alles mit tatsächlicher Handwerkskunst zugestellt war. Wo ein Juwelier in einer Ecke arbeitete, der wunderbare Schmuckstücke verkaufte, aber trotzdem nur kurz aufblickte, als die Tür schellte, mich mit einem Blick würdigte und sich dann wieder über eine Kette beugte.
Ich fand an jeder Ecke kleine Museen und noch kleinere Lädchen und Gallerien und lernte dank Infotafeln und Smartphone-App über die geschichtsträchtige Stadt. Ich setzte mich schließlich in ein Kellercafé am Marktplatz. Es duftete nach Kaffee und ich trank einen würzigen Honigkaffee, der unglaublich gut schmeckte. Die Musik war locker, luftig, seicht und durch ein Halbfenster schien die Sonne in den Raum mit den unverputzten Wänden und niedrigen Decken. Die Kellner hasteten durch einen kleinen Gang nach draußen, wo der Großteil der Kundschaft saß. Irgendjemand spielte auf einem Klavier mit Nachhall und vor einem anderen Fenster saßen Studierende auf Fellen im Schneidersitz über ihre Bücher gestützt.
Ich bin glücklich, dass ich die Gelegenheit hatte, die Menschen kennen zu lernen, die ich getroffen habe. Es ist leicht, sich lebendig an eine Stadt zu erinnern, wenn die Erinnerungen mit Menschen, mit Lachen, mit ruhigen und mit verrückten Momenten verbunden sind. Es ist einfach, eine Stadt lieben zu lernen, in der einem diese Liebe von jungen Menschen vermittelt wird, die in ihren Mauern groß geworden sind.
Tallinn ist eine besondere Stadt, gerade weil es einen Moment und Eigeninitiative braucht, sie zu verstehen. Und weil es so viele Ebenen gibt, auf der man sie schätzen lernen kann. Ehe ich zurück nach Deutschland flog, fragte ich einen jungen Esten auf dem Marktplatz, wo einige Stände aufgebaut waren und ein Kanu geschnitzt wurde, was er an Tallinn besonders schätze. Er zuckte mit den Schultern und schmunzelte ein Halblächeln. „Was für eine Frage.“, sagte er. „Es ist halt so ein Gefühl. Ich fühle mich einfach wohl.“
Juli 2015