Es ist Hochsommer und ich lebe dort, wo andere Menschen Urlaub machen: in Marseille, Hauptstadt der französischen Region PACA (Provence- Côte d’Azur-Alpes). In der Stadt, wo die Menschen nicht edel nasaliert „pain“ (Brot) bestellen, sondern beim Bäcker „peng“ haben wollen und dabei eine leidenschaftliche Abneigung gegen das versnobbte Paris pflegen, lerne ich einen Sommer lang Französisch. Dabei wohne ich derzeit bei einer älteren Dame mit einem Kühlschrank voller Käser und blicke aus meinem Fenster auf französische Kalkberge und aus der Küche auf die Kirche „Notre Dame de la Garde“, Wahrzeichen von Marseille, die stolz über die Stadt wacht.
Marseille war 2013 europäische Kulturhauptstadt und die Stadt hat sich dafür ordentlich heraus geputzt. Ich erinnere mich daran, meine Patentante, eine waschechte Marseillaise, vor Jahren besucht zu haben. In einigen Straßenzügen erlaubte sie mir nicht, deutsch zu sprechen – zur Sicherheit – und ununterbrochen warnte sie mich davor, wie gefährlich die Stadt sei.
Marseille blickt auf eine jahrtausendalte, sehr bewegte Geschichte zurück, die sich rund um den Meerzugang und damit verbunden den Hafen dreht.
Als Hafenstadt war – und ist – Marseille immer in Bewegung und das brachte früher nicht nur Wohlstand, sondern auch allerhand zwielichte Gestalten mit sich, die sich in den verwinkelten Gassen der alten Stadt wohl fühlten und ihre krummen Geschäfte ungeniert durchführten.
Die verwinkelten Gassen gibt es nicht mehr, der Wohlstand ist auch nicht mehr da und die Kriminalität hat sich auf spezifische Felder verlagert. So fallen z.B. zahlreiche (junge) Menschen jedes Jahr Bandenkriegen zum Opfer. Drogengeschäfte, Prostitution und Dreck gibt es noch immer – aber ich fühle mich sicher und meistens wohl, auch wenn Urinpfützen und schwarze Ratten meine Zufriedenheit hin und wieder etwas schmälern.
Aber so ganz allgemein, und ganz oberflächig: Angenommen, ich sei einen Tag in Marseille – was gibt es zu sehen?
Ich beginne meine Tour an der Metrostation „Noailles“, wo mich die Stadt mit einem bunten Markt empfängt. Ich befinde mich im arabischen Viertel. In kleinen Läden stapeln sich bunte Boxen mit losen Gewürzen, Trockenfrüchten und Tee, in enormen Fleischereien wird halal Fleisch verkauft und hier lässt es sich gut und billig essen – nach französischen Spezialitäten sucht man allerdings vergeblich. Hier mischt sich französisch mit arabisch. Marseille ist eine Stadt in Bewegung und Migration und Einwanderung haben ihre Bevölkerung, ihre Kultur und ihre Identität geprägt und gestaltet.
Richtung Canebiére geht es raus aus dem bunten Gewimmel und plötzlich bin ich in einer anderen Welt. Auf der großen Einkaufsstraße wurden die Fassaden für die Kulturhauptstadt schick gemacht und sie führt geradlinig direkt auf den Hafen zu.
Seit 1481 ist Marseille ein Teil Frankreichs und viele Bauprojekte rund um den Hafen wurden von den Königen Frankreichs initiiert, aber erst Louis XIV, der Sonnenkönig und Inbegriff des höfischen Absolutismus, veränderte die typisch provenzalische Struktur der Stadt im 17. Jahrhundert. Er hatte großartige Pläne, um die Stadt zu vergrößern und einige davon wurden umgesetzt. So wurde bspw. mit gerade auf den Hafen zuführenden Straßen ein prächtiges, symmetrisches Viertel geschaffen, das dem Monarchen mehr zusagte, als die dunklen Gassen und steilen Treppen, die – Brutstätte der Kriminalität – das Stadtbild und den Ruf des alten Marseille prägten.
Vielen Marseillaise sind die Häuser im Pariser Stil, die seit dem 19. Jahrhundert die Canebiére und den architektonischen Stil rund um den alten Hafen prägen, ein Dorn im Auge – auf den provenzalischen Stil wird noch viel Wert gelegt.
Bevor ich an dem Retro-Karussell vorbei zum Hafen spaziere, den ich schon vor mir sehen kann, mache ich noch einen kleinen Abstecher vorbei am Palais de la Bourse, ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts, um neben dem edlen Shoppingcenter „Galerie Lafayettes“ einen Blick auf eine alte Ausgrabungsstätte zu werfen. Ganz zufällig wurden hier damals beim Bau des Einkaufzentrums Überreste aus der Antike gefunden – in einer so alten Stadt wie Marseille findet man nun mal hin und wieder einige Scherben oder Mauern im Vorgarten (was oft genug aber auch verschwiegen wird, immerhin findet es nicht jeder toll, wenn sein Garten im Interesse der Wissenschaft umgegraben wird). Zum Jahr 2013 wurde hier das historische Museum Marseilles errichtet – ein Museum, das ich sehr empfehlen kann!
Nun geht es aber endlich zum alten Hafen, dem touristischsten Ort in Marseille. Inzwischen legen hier nur noch Freizeitbote und kleine Touri-Schipper an. Letztere fahren zum Beispiel zum Chateau d’If: Hier ist Graf von Monte-Christo angeblich entkommen und hier hat der Kommandant des Schiffes, das ziemlich sicher die Pest nach Nordeuropa gebracht hat (auf jeden Fall aber nach Marseille), weil es sich aus der Quarantänepflicht gekauft hat, in einer recht noblen Zelle mit schickem Kamin seine Strafe abgesessen, während der schwarze Tod die Hälfte der Stadt dahin raffte.
Sie fahren auch zur Insel Frioul, wo es sich sehr gut baden lässt und wo man sich auch sehr gut verarzten lassen kann, falls man sich unglücklicherweise im Wasser den Ballen aufschneidet (ich spreche da aus Erfahrung). Und natürlich fahren sie in die Calanques, die wunderschönen Kalksteinbuchten zwischen Marseille und Cassis.
Rechts vom Hafen geht es in die Altstadt Marseille, Le Panier. Vom ursprünglichen Viertel ist nicht mehr viel übrig (das mittelalterliche Marseille ist komplett verschwunden). Zuletzt von den Nazis wurden hier viele der engen Straßenzüge weggebombt. An ihre Stelle wurden dann in der Nachkriegszeit 50er-Jahre-Bauten gesetzt. Nicht so schön.
Schön ist aber noch das Rathhaus, L’Hôtel de Ville, und dahinter das Hôtel Dieu, früher ein Krankenhaus, heute ein schickes Hotel mit schwarzem Interieur. Le Panier ist noch ziemlich zerfallen und wird erst langsam neu entdeckt – hier siedeln sich kleiner Designer_innen und Künstler_innen an. Vor der Vieille Charité, ein ehemaliges Krankenhaus am anderen Ende des Viertels, lässt es sich sehr gemütlich einen nachmittäglichen Wein trinken oder etwas essen.
Vorbei an kleinen Läden geht es wieder raus aus dem alten Viertel und plötzlich erhebt sich vor mir eine imposante Kirche, riesengroß, beeindruckend und schön: La Cathédrale de la Major. Die Kirche wurde im 19. Jahrhundert gebaut, steht im Wettbewerb mit der Notre Dame de la Garde und verliert. Einen Besuch ist sie aber auf jeden Fall wert!
Vor der Kirche weht auf dem offenen Platz ein kräftiger Wind, der mich mit meinem Rock kämpfen lässt. Ungestört vom Wetter spielen einige Männer auf einer Sandfläche petánque, Boule, und ebenfalls ungestört ragen am Wasser einige Hafenkräne in die Luft: hier ist der neue Hafen.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden nämlich die Kiele der Frachtenschiffe zu tief für den alten Hafen. Der neue Hafen wird inzwischen überwiegend für Fähren zum Beispiel nach Korsika oder Tunesien genutzt oder für Kreuzfahrtschiffe, die ihren schwarzen Dampf in den blauen Himmel pusten. Für Frachtschiffe gibt es inzwischen einen noch neueren Hafen.
Von der Kathedrale habe ich es nicht weit bis zum MUCEM, neu errichtet für 2013, sehr interessant anzugucken und durch eine Brücke mit dem Fort Saint-Jean verbunden. MUCEM ist das erste französische Nationalmuseum, das sich außerhalb Paris befindet und trägt den Titel „Museum of European and Mediterranean Civilisations“. Ein Besuch lohnt sich!
Fort Saint-Jean – und gegenüber auf der anderen Seite des Hafeneingangs Fort Saint-Nicholas – wurden ebenfalls von Louis XIV errichtet, der um die Ordnung in Marseille besorgt war – dementsprechend sind die Kanonenschächte nicht nach außen auf das Meer gerichtet, sondern nach innen in die Stadt, um im Zweifelsfall auf rebellische Unruhestifter in der Stadt zielen zu können (von denen es genug gab).
Inzwischen neigt sich die Sonne, sie knallt noch immer mächtig und ich merke es aber kaum, weil der kräftige Wind gleichzeitig kühlt. Das Wetter in Marseille ist gefährlich für solche wie mich, die viel zu schnell verbrennen. Wer übrigens die originale Savon de Marseille kaufen möchte, hat hier am Quai die Gelegenheit: Hier gibt es noch die Seife nach ursprünglichem Rezept zu kaufen: sie ist braungrün (niemals bunt!), riecht komisch und hat einen Olivenölanteil von 72%.
Der Tag geht dem Ende entgegen, die Nacht kommt und nachts gibt es nur einen Ort, an den es mich, gemeinsam mit dem jungen Volk Marseilles, zieht: Den Course Julien, bei der Metro-Station Notre Dame du Mont. Vom Hafen geht es ungefähr 20 Minuten bergaufwärts, erst durch Einkaufsstraßen, dann durch weniger saubere Gassen, bis ich vor einer bunten Treppe stehe: Auf geht es nach oben, dorthin, wo die Wände mit Graffiti verziert sind, wo ein bisschen zu viele Drogen im Umlauf sind, aber wo es Bier, Wein und Essen zu den besten Preisen – und im besten Ambiente – gibt.
Marseille ist eine sympathische Stadt, aber irgendwie auch bizarre, ein bisschen ruppig und ein bisschen verwahrlost. Aber es ist eine Stadt voller Geschichten und diese Geschichten sind in jedem der vielen Viertel ganz unterschiedlich. Gerade noch am Hafen zeigt die Stadt ein ganz anderes Gesicht, als zehn Minuten später auf dem arabischen Markt und umgeben von Hipstern und Menschen auf der Suche nach irgendwas, mit oder ohne Sinn, am Course Julien finde ich mich wieder in einer ganz neuen Welt.
Ich habe Marseille noch nicht verstanden, aber ich versuche es auch nicht. Für den Moment genieße ich das Entdecken und das freudige Gefühl, wenn ich wieder eine ganz andere Ecke, mit einem ganz neuen Lebensgefühl, finde.