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Seit Montag streiken in ganz Polen Lehrer*innen und eine Welle der Solidarität hat das Land erfasst. Über die Hintergründe dieses Streiks, seine Bedeutung für die politische Kultur Polens und über Solidarität geht es in diesem Artikel.
„Wir wollen weiter unterrichten und arbeiten! Versteht uns!“, lautete der Appell Tausender Lehrer*innen in Polen am Montag, als sie sich zu Beginn des größten polnischen Streiks seit 26 Jahren Verständnis von Eltern und Schüler*innen erbaten. Unterrichten ja – aber nicht mehr unter den bisherigen Bedingungen. Aufgrund nicht länger tragbarer Arbeitsbedingungen befinden sich seit dem 8. April fast drei viertel aller Schulen und Bildungseinrichtungen im Land in einem unbefristeten Streik. Primär soll so der Forderung nach angemessener Entlohnung von Lehrer*innen, die in den Gewerkschaften ZNP (Związek Nauczycielstwa Polskiego) und FZZ (Forum Związków Zawodowych) organisiert sind, Nachdruck verliehen werden. Obwohl Polen seit einer Bildungsreform im Jahr 1999 in Vergleichsstudien wie PISA rasante Verbesserungen an den Tag legte und inzwischen im europäischen Vergleich Spitzenplätze belegt, verdienen Lehrkräfte hier nach wie vor unverhältnismäßig wenig. Das Einstiegsgehalt einer Lehrkraft liegt nur wenige Zloty über dem gesetzlichen Mindestlohn von 2250 Zloty (ca. 525€).
Anstelle einer Reform steht die „Deform“ des Bildungssystems
Einen Lohn, der an den rasanten Anstieg der Lebenshaltungskosten der vergangenen Jahre angepasst ist, findet auch Lehrer Andrzej Z. aus Krakau lange überfällig. Er unterrichtet an einer Grundschule und steht bereits kurz vor der Pension; um sich mal einen Kinobesuch oder einen Ausflug leisten zu können, verdient der Sport- und Physiklehrer am Wochenende mit Weiterbildungskursen für Erwachsene dazu.
Der derzeitige Streik ist nicht der erste Protest aus der Feder von ZNP und FZZ in den vergangenen Jahren. Dorota Obidniak, Koordinatorin für internationale Kooperation und Bildungsprojekte der ZNP, beschreibt umfangreiche Protestaktionen ihrer Gewerkschaft wie das Verfassen von Manifesten, öffentlichkeitswirksame Aktionen und Demonstrationen. „Wir wollen seit Jahren diskutieren“, erklärt sie. „Doch niemand war bereit mitzumachen.“ Sie räumt ein, dass sich die Situation und auch die Bezahlung graduell verbessert hätten – jedoch niemals auf ein akzeptables Niveau. Eine umfassende Bildungsreform im Jahr 2017 war Öl in das Feuer der Gewerkschaft. „Wir sprechen hier nicht von einer Reform, wir sprechen von einer Deform“, erklärt Obidniak. „An ihrer Entwicklung waren keine Pädagogen oder Experten beteiligt. Wir dachten immer, die Bildungspolitik in Polen könne nicht noch schlimmer werden. Wir haben uns geirrt.“
Im Zuge dieser Reformen wurden das polnische Schulsystem komplett umgestellt und neue Lehrpläne entwickelt. Lehrkräfte stellten sich erfolglos gegen die Reform zur Wehr und ein Gesuch nach einem Referendum war vergebens. Pädagogisch seien diese Reformen eine Katastrophe, so Obidniak. Bei den Lehrer*innen haben sie zu viel Frustration geführt. „Mit ihrer Bildungspolitik scheint die Regierung alles zu tun, damit die kommenden Generationen ungebildet sind“, meint der Lehrer Andrzej Z. zynisch. „Klar – Ein ungebildetes Volk lässt sich leichter regieren.“
Die Gesellschaft auf Seiten des Streiks
Ein Streik von einem solchen Ausmaß bricht nicht über Nacht aus – das verhindern auch die Streikregelungen im Land. Wochen Vorlauf gab es daher, hitzig wurde währenddessen in den Medien diskutiert, wo vor allem regierungsnahe Medien versuchten – und nach wie vor versuchen – Stimmung gegen die Gewerkschaften und die Streikenden zu machen. Die streikenden Lehrer*innen werden als unverantwortlich oder geldgierig dargestellt. Vor allem der Entschluss, den Streik in die Wochen von Abschlussprüfungen zu legen, wird als Beweis für die egoistische Haltung der Streikenden herangezogen. Gegen diese Vorwürfe wehren sich Lehrer*innen entschieden.
„Als Lehrer und Pädagogen sind wir niedergeschlagen davon, wie zynisch die Öffentlichkeit manipuliert wird, wie Lehrer und Eltern gespalten werden. Wir fassten die schwierige Entscheidung über den Beginn des Streiks im vollen Bewusstsein dessen, dass die Vertagung der Klausuren keine vergleichbar schlechten Konsequenzen haben wird, wie unbedachte und chaotische Reformen“,
schreiben Lehrkräfte einer Schule in Krakau in einem offenen Brief und bitten um Verständnis – das sie in ganz Polen bisher erleben. In der Schule von Andrzej Z.‘s, wo die Lehrkräfte wie überall mit einer Unterschrift ihre Anwesenheit in der Schule gemäß Stundenplan belegen müssen und daher derzeit viel Zeit diskutierend im Lehrerzimmer verbringen, versorgten Eltern sie in den vergangenen Tagen mit Kuchen. „Die Mehrheit der Eltern unterstützt uns, weil sie uns und unsere Arbeit für ihre Kinder wertschätzen“, erklärt Andrzej Z., der sich gerührt zeigt von der Solidarität.
Die sozialen Medien quellen über vor positiven Nachrichten, auf Facebookprofilen prangt der Banner „Ich unterstütze die Lehrer“ und die Parole „Haltet durch“ ist allgegenwärtig. Liberale Medien berichten wohlwollend über den Verlauf der Streiks, Kulturzentren bieten Betreuungsangebote an, Unternehmen zeigen sich flexibel, um dem Betreuungsaufwand der Eltern entgegen zu kommen. Auf Twitter postete der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski ein Foto mit seinem Sohn und den Worten „Ich habe heute bei der Arbeit den besten der besten Gehilfen, meinen Sohn Staś“. Der Politiker der größten Oppositionspartei, die Bürgerplattform, dankte den Warschauer Eltern für ihr Verständnis für den Streik. Die umfassende Unterstützung durch die Opposition ist durchaus überraschend, denn noch vor ein paar Monaten äußerten sich Politiker der Bürgerplattform, kritisch über derartige Pläne und beschrieben gewerkschaftlichen Protest als nicht mehr zeitgemäß. In dem wichtigen Wahljahr scheint es hier ein Umdenken zu geben. 2019 werden in Polen nicht nur Abgeordnete für das Europaparlament gewählt, sondern auch eine neue Regierung. Von daher fällt der Streik in eine Zeit, die ein wichtiges Moment für die politische Richtungsanzeige in Polen ist; in eine Zeit, die von Umbruch und Aufbruch geprägt ist.
Niemand vertritt diesen Narrativwechsel besser als die junge Wiosna (Frühling) Partei von Robert Biedroń, die neu gegründet erstmalig mit einem links-liberalen Programm für die Europawahlen antritt. Adam Traczyk, auf der Warschauer Liste für das Europaparlament und in der Partei zuständig für außenpolitische Fragen, nimmt die Streiks als sehr positiv wahr. Er beschreibt die umfassende Identifikation der Bevölkerung mit den Streikenden als ein Novum. Die Kraft der Mobilisierung habe hier die Kapazität, die politische Kultur des Landes nachhaltig zu verändern.
Solidarität ohne Solidarność
Aufmerksame Leser*innen mögen verwundert sein, warum ein gewerkschaftlicher Protest in Polen ungewöhnlich erscheint – war es doch vor 40 Jahren die polnische Gewerkschaft Solidarność, die von Danzig ausgehend den Systemwechsel in Polen bewirkte. Doch die gegenwärtige Solidarność hat mit der revolutionären Gewerkschaft von einst nichts mehr zu tun. Der Vorsitzende der Bildungsabteilung ist selbst ein Politiker der regierenden PiS-Partei. Der Solidarität in ihrem Namen wurde die Gewerkschaft in den vergangenen Tagen nicht gerecht, als sie sich in Verhandlungen mit der Regierung am Sonntag auf einen faulen Kompromiss einließ und ihren Mitgliedern schriftlich ein Streikverbot erteilte. Seitdem sind zahlreiche Lehrer*innen aus der Solidarność ausgetreten. So hat es die PiS-Regierung geschafft, die Solidarność zu spalten – und die Furcht vor einer Spaltung der Gesellschaft ist groß. Die Stimmung könne schnell kippen, sind sich sowohl Dorota Obidniak als auch Adam Traczyk sicher, vor allem wenn der Streik sich sehr in die Länge ziehe. Genau das sei wohl das Ziel der Regierung, vermuten verschiedene Medien und Kommentare online, die auch die mangelnde Präsenz der Bildungsministerin Anna Zalewska seit Anbeginn des Streiks kritisieren. Hier wird spekuliert, dass von Seiten der PiS auf Zeit gespielt werde, um die Stimmung weiterhin gegen die Lehrer*innen zu manipulieren und die Streikenden so unter Druck zu setzen. Das Verhalten der PiS-Regierung zeigt aber auch, dass sie die Reichweite des Streiks im Vornherein unterschätzt haben und sich nun schwer tut, einen Umgang damit zu finden. „Die PiS hat dieses Narrativ, dass die Kinder die Opfer der Lehrer sind“, erklärt Traczyk. „Aber in der Bevölkerung gibt es dafür keine Mehrheit. Die Forderungen der Lehrer müssen erfüllt werden. Viele Lehrer gehen inzwischen nach Brandenburg, weil sie dort besser verdienen können. In Polen muss der Beruf wieder ein Prestigeberuf werden. Dieser Beruf ist ja keine Mission oder ein Freiwilligendienst.“
Der erste Erfolg: Endlich wird über Bildung diskutiert
Auf die Frage, wie die Gewerkschaft den Streik einschätze, zögert Obidniak mit einer Antwort. „Es ist schwierig zu sagen, dass wir mit einem Streik zufrieden sind, das klingt komisch. Doch die Bereitschaft unserer Kolleginnen ist unglaublich groß, von Anfang an gewesen.“ Glücklich – und auch etwas erstaunt – sei man vor allem über die große Unterstützung nicht nur aus der Gesellschaft, sondern auch von internationalen Partnern. In einem Brief schreibt zum Beispiel die deutsche GEW:
„Streiken ist nie eine einfache Entscheidung für Lehrer, aber Euer Streik ist absolut gerechtfertigt. Wir unterstützen Euch in diesem Kampf, denn es ist ein gemeinsamer Kampf in ganz Europa.“
Der jetzige Streik ist nicht der erste große Protest in Polen in den vergangenen Jahren. Zu verschiedenen Themen können hier inzwischen wieder leichter große Menschenmengen mobilisiert werden. Laut Obidniak sei diese Mobilisierung der Bevölkerung eine einmalige Chance. Obwohl es derzeit keine Anzeichen für eine baldige Beendigung des Streiks gibt, zeigt sie sich dennoch optimistisch, dass der Streik gut beendet wird. „Der Streik hat bereits jetzt viel Positives: so viel Diskussion über Bildung hat es in Polen bisher noch nie gegeben, und so viel Solidarität habe ich auch noch nie erfahren. Jetzt kommt plötzlich Solidarität auch von Politikern, die vorher ganz anderer Meinung waren.“, beschreibt sie und schlussfolgert: „Da gibt es eine Wende. Man muss jetzt nur hoffen, dass die Stimmung nicht kippt.“
Dieser Artikel wurde geschrieben für The New Federalist.